„In allen Belangen überlegen“

Boris Becker wundert sich über seine Niederlage gegen Pete Sampras im Finale der ATP-WM und spricht vom besten Tennis aller Zeiten  ■ Aus Hannover Matti Lieske

Nicht auszudenken, wenn Boris Becker das Endspiel der ATP- WM gegen Pete Sampras auch noch gewonnen hätte. Die ohnehin überschwappenden Superlative hätten neue Dimensionen des sprachlichen Unfugs erklommen, und die 15.600 in der Europahalle auf dem Hannoveraner Messegelände wären in ein Massendelirium verfallen, das selbst die spirituellen Höhenflüge im Bhagwan-Ashram der frühen Achtziger in den Schatten gestellt hätte. Doch der vom Publikum mit Schreien, Trampeln und Klatschen beschworene Höhepunkt der niedersächsischen Boris-Becker-Woche blieb aus: Nicht der 29jährige, der ein simples Tennisturnier in eine große Party verwandelt hatte, wurde ATP- Weltmeister, sondern Pete Sampras.

Mit 3:6, 7:6 (7:5), 7:6 (7:4), 6:7 (11:13) und 6:4 gewann der Weltranglistenerste aus den USA ein zweifelsfrei phänomenales und dramatisches Match, in dem er die meiste Zeit der schwächere von zwei hervorragenden Spielern war. „Ich kann eigentlich gar nicht glauben, daß ich verloren habe“, sagte Becker später, „ich war doch in allen Belangen überlegen.“ Tatsächlich lag der entthronte Titelverteidiger in sämtlichen statistischen Kategorien vorn und hatte am Ende 12 Punkte mehr geholt als sein Gegner. Leider die falschen.

Der ernüchternde Ausgang der Partie rückte die Dinge ein wenig zurecht, dennoch war der verbalen Euphorie anschließend Tür und Tor geöffnet. „Eines der fünf größten Matches aller Zeiten“, verstieg sich Boris Becker und erklärte, daß er nicht besser spielen könne, als er es gerade getan habe. Sampras bestätigte als guter Junge brav, daß er ein solch emotionales Match noch nie erlebt habe, obwohl er allein in diesem Jahr zwei Partien absolviert hat, die sicher länger im Gedächtnis haften werden: die tränenumflorte gegen Jim Courier bei den Australian Open, als er von der tödlichen Krankheit seines Trainers Tim Gullikson erfahren hatte, und die bei den US Open gegen Alex Corretja, als er sich auf dem Platz vor Erschöpfung übergab und dennoch Match sowie Turnier gewann. „Das beste Tennis, gegen das ich je gespielt habe“, bescheinigte er in Hannover dem Kontrahenten Becker, allerdings nur auf den ersten Satz bezogen. Da hatte er keine Chance gegen den Aufschlag Beckers, selbst große Mühe, seine Servicespiele durchzubringen, und schien erbarmungswürdig chancenlos.

Doch dann bewies der 25jährige, warum er die Nummer eins ist und bei den wahrhaft großen Anlässen auch gegen Becker gewinnt. Er tat genau das, was ihn nach eigenen Angaben schon im Halbfinale gegen Goran Ivanisevic gerettet hatte: „Ruhe bewahren, mitspielen, den Aufschlag halten“. Und in den Tiebreaks unbarmherzig zuschlagen. Satz zwei und drei gewann Sampras auf diese Weise, im vierten hatte er zwei Matchbälle, doch Becker, der, da war er sicher, nie drei Tiebreaks in Folge verloren hat, konnte sich noch einmal retten. Sein einziger Aufschlagverlust zum 4:5 im fünften Satz, den Sampras mit einem Freudenschrei feierte, wie er ihm nur bei ganz exquisiten Anlässen über die Lippen fleucht, entschied schließlich das Match.

Beide Spieler beteuerten anschließend, daß sie unglaublich stolz wären, „Teil eines solchen Matches“ gewesen zu sein, und Becker erklärte Sampras kurzerhand zum „größten Tennisspieler aller Zeiten“. Damit beschritt er gefährliches Terrain, denn ähnlich wie beim Fußball stellt sich auch im Tennis die Frage, ob sich verschiedene Epochen in Bezug auf Qualität und Schönheit vergleichen lassen. Zweifellos ist der Sport schneller als früher, die Aufschläge sind härter, die Spieler besser trainiert. „Ich bin gegen Leute wie Connors, McEnroe, Lendl angetreten und habe auch mit Björn Borg trainiert“, sagte Becker, „das ist überhaupt nicht zu vergleichen. Das ist eine andere Liga.“ Wenn er selbst spielen würde wie vor zehn Jahren, hätte er „keine Chance“.

Sicher richtig, andererseits sorgt das hohe Tempo und die immense technische Qualität – wiederum wie im Fußball – nicht unbedingt für höheren Unterhaltungswert. Vor allem in den ersten Sätzen, als beide, wie sie meinten, fast perfektes Tennis boten, wollte der Funke trotz aller Willigkeit des Publikums nicht überspringen. Die Zuschauer seien weniger hitzig gewesen als beim Vorrundenmatch der beiden, stellte Becker fest und fragte: „Wie laut kann man eine ganze Woche lang schreien?“ Der Grund für die Zurückhaltung war jedoch eher die Kühle, die das Match in jener Phase ausstrahlte. Die unfehlbare Genauigkeit der Schläge führte zu unspektakulären Serve'n Volley-Punktgewinnen, wenn nicht schon der Aufschlag die Entscheidung brachte. Kein Fehler, kein mißratener Smash, ungenauer Volley oder erreichbarer Passierball sorgte für unverhoffte Wendungen innerhalb eines Ballwechsels. Präzisionstennis wie mit dem Laserstrahl vorgezeichnet, dessen Qualität sich zuvörderst den Akteuren selbst erschloß. Begeisterung kam erst auf, als das Match auf der Kippe stand.

Ballwechsel gab es, aber sie waren kurz. Der längste entwickelte sich beim Matchball und erinnerte Sampras prompt an seinen Werbespot mit Agassi und McEnroe, in dem die Bärte wuchern, das Gras wächst und der Schnee fällt. In Wahrheit wäre kaum Zeit gewesen, sich den Schuh zuzubinden, so rasch war auch dieser Austausch von Grundlinienbällen vorbei.

Die Chancen der Thomas-Muster-Petition für langsamere Beläge stehen daher gut. Neben anderen hat auch Sampras unterzeichnet, obwohl ihm der schnelle Boden entgegenkommt. „Für die Zuschauer wäre es sicher interessanter“, ist der ATP-Champ überzeugt. Boris Becker dagegen will davon nichts wissen. „Ich hoffe, das Gerede vom zu schnellen Platz ist jetzt vorbei“, sagte er nach dem Finale, das Problem sei sowieso nur Ivanisevic: „Alle anderen schlagen vernünftig auf.“