Schlampiges Wurstschnappen

Uraufführung von Sorokins „Dysmorphomanie“ durch den Passionsspielleiter Christian Stückl in Wien  ■ Von Uwe Mattheiß

An der Rückwand der leeren Bühne öffnet sich die Tür zu einem weißgekachelten Korridor. Ganz in Weiß gekleidet führt das Pflegepersonal einer sowjetischen, postsowjetischen oder wo auch immer herrührenden Psychiatrieanstalt sieben Kreaturen auf die Bühne. Sieben Leben, belanglos und doch erlitten. Wladimir Sorokin führt die Hauptfiguren von „Dysmorphomanie“, uraufgeführt im Wiener Schauspielhaus, mit einem Ritual vorschriftsmäßig dosierter Demütigungen ins Geschehen.

Eine Lautsprecherstimme referiert nacheinander die Krankengeschichten, die Patienten werden entkleidet, man entreißt ihnen jeweils die Gegenstände ihrer Obsessionen. Es sind sieben Menschen, die die Wahrheit ihres Lebens nicht gefunden haben und in der drängenden Erwartung, daß es eine solche gibt, eine Wahrnehmung von körperlichen Zuständen entwickelt haben, die es nach der herrschenden Meinung nicht gibt.

Ein junger Mann (Sebastian Blomberg) etwa versucht, seine vermeintlich zu große Nase mit einem Pflaster zu verdecken. Eine junge Frau (Adelheid Bräu) mildert ihre Angst vor unkontroliertem Furzen mit einem Pfropf, und ein älterer Mann (Eduard Wildner) spannt seinen vorgeblich gekrümmten Rücken in ein Korsett mit Stuhllehne. Andere steigern sich wegen fetter Oberschenkel in Bulimie-Attacken, korrigieren blickverzerrende Schlupflider mit metallenen Lidhaltern oder verstärken einen zu dünnen Hals mit taudicken Schnüren.

Verzweifelt, aber nicht ohne Stolz tragen Sorokins Patienten diese Gegenstände, bedeuten sie ihnen doch den verdinglichten Rest ihrer verlorenen Menschenwürde. Sie sind Heilige, die Krankengeschichten ihre Heiligenlegenden, und sie sind Clowns, tragen sie doch wie diese die Spuren und die Werkzeuge ihrer Qualen in ihrem Bild. Es ist kaum faßbar, daß ausgerechnet Christian Stückl, der Regisseur, der nach 1990 im Jahre 2000 ein weiteres Mal in Oberammergau die Geschichte von der Folterung, Hinrichtung und Auferstehung Jesu für ein Millionenpublikum in Szene setzen wird, den ikonographischen Qualitäten von Sorokins Figuren nicht mehr abgewinnen kann.

Sorokins Eröffnung erfährt in Wien einige Abmilderungen. Aus dem Pflegepersonal wird ein puckartiger Kobold (Steffen Schroeder) mit platinblondem Haar und schwarzem Outfit. Statt vor den Pissoirkacheln einer Gulag-Anstalt gruppieren sich die Irren im Wiener Schauspielhaus um eine barockgedeckte Tafel. Eine dramaturgische Pointe, die durchaus noch Sinn macht, wird doch der Text aus der Härte des Postkommunismus ins sozialstaatlich verweichlichte „Mitteleuropa“ verlegt. Ein bißchen Wurstschnappen, doch dann reißt das Pflegepersonal das Tischtuch herunter, Sparpaket ist angesagt. Das war's.

Ansonsten reduziert die Wiener Aufführung die erste Hälfte des Textes auf ein schlampiges Intro für die kommende Shakespeare- Paraphrase. Unter dem Einfluß der Anstaltsdrogen mutieren die Patienten zu Hamlet und Julia, zu König, Königin, Horatio und Thybalt. Es kommt zu einer spannenden Interaktion zwischen den beiden schlimmhaftigsten Tragödien der europäischen Theaterliteratur und endet in den bekannt grauenhaften Folgen: „So etwas Trauriges / wie die Geschicht' / von Julia und Hamlet gibt es nicht.“

Sorokin konzipiert diesen Teil des Dramas als Monumentaltheater mit Szenenwechseln und Parallelaktionen zwischen Helsingör, Verona und der Krankenanstalt, in denen vom Pfropf bis zum Kotzglas die Insignien der irren Darsteller in wechselnden Formationen immer wieder auftauchen. Ein Theater im Theater, das mit den Mitteln des Realismus selbstverständlich unspielbar ist. Aber das, so hört man, ist gerade die Herausforderung bei Sorokin. Bevor sie an diesem Scheideweg jedoch überhaupt ankommt, stutzt die Dramaturgie des Hauses den klar wie eine Mozartpartitur durchkomponierten Text auf ein pragmatisch-technisches Mittelmaß.

Ein emotional wie spieltechnisch überfordertes und allein gelassenes Ensemble scheitert an den vermeintlichen Obszönitäten des Textes, die erst durch den Versuch öbszön werden, Obszönität zu vermeiden. In individuellen theatralischen Mutproben überspielen sie ihre Widerstände: tief Luft holen, Geschlechtsteil vorzeigen, erleichtert ausatmen, weil man nun nicht mehr Spießer gescholten werden kann, und ab. „Dysmorphomanie“ gehört in die Hände von Schauspielern, denen man ohne Abstriche auch „Hamlet“ oder „Romeo und Julia“ zutraut. Das Wiener Schauspielhaus hat die Chance vertan, zu zeigen, daß Sorokin mehr hergeben kann als eine postsozialistische Therapiesitzung. Wenn Sorokin tatsächlich die größte Herausforderung ist, die die Gegenwart dem Theater stellt, dann gehört er an die großen Häuser der Staatstheater – oder nirgendwohin.

„Dysmorphomanie“ von Wladimir Sorokin. Regie: Christian Stückl, Ausstattung: Christian Sedelmayer, Schauspielhaus Wien