Ikarus' Fall vom Himmel in die U-Bahn

■ Ein Gespräch mit der australischen Underground–Autorin Tracy Ryan

Poems on the Underground gibt es in Hamburg nicht. Schade eigentlich: Diese listige Idee der angesehenen Times Literary Supplement bringt den ausgezeichneten Dichtern nicht nur etwas Geld ein, sondern bringt sie auch ins Gespräch. „Daß meine Verse in der Londoner U-Bahn angeschlagen sind, freut mich doppelt: So werde ich in England vorgestellt, und Menschen, die vielleicht nie ein Gedicht zur Hand nehmen, lesen sie.“

Die junge australische Autorin Tracy Ryan hat gerade den Underground-Preis des Times Literary Supplement gewonnen – und gibt gegenwärtig in Hamburg einen Creative-Writing-Kurs.

„Schreiben und Schreibkurse geben ergänzt sich auf wunderbare Weise. Die Schreibweisen anderer Autoren zu untersuchen, wirkt auf meine eigenen Texte zurück.“ Im Gedicht „Cycle“ heißt es selbstironisch: „I am/exercising control, choosing/carefully/my mistakes.“Die Gedichte Tracy Ryans sprechen nicht von ihrem Heimatkontinent Australien, sie erkunden den eigenen Körper, „that is my body, the white/waste spaces of the page“.

Bei der Lektüre ihres jüngsten Gedichtbandes Bluebeard in drag wird ein weiblicher Körperkontinent sichtbar. Die Suchbewegungen Ryans nehmen den Schrecken der Fremdheit und Abgetrenntheit wahr wie in „Anonymous“: „At dawn/for a terrible moment/she forgets/whose leg it is that/closes over her.“ Daneben aber auch das Glück der Verschmelzung wie in „Fusion“: „half of me is lost/in your body.“

Tracy will keine private Nabelschau: „Von mir und meiner Intimsphäre zu sprechen, widerstrebt mir. Belangvoll ist allein, was vom Persönlichen ins Allgemeine weist.“ Beispielsweise die Geschlechterdifferenz, die unüberwindbar bleibt, auch wenn im Gedicht eine Utopie aufscheint: „You soaped me/all over/The differences/seemed less then – /an illusion of newness/of bodies so/fluid so/possible.“

Der Sturz des Ikarus fasziniert Ryan, weil er die beflügelnde Macht und zugleich die grausame Vergeblichkeit der Wünsche zeigt. In „Fall“ spricht Ryan von sich, ohne „ich“ zu sagen. „Want/a smaller scale/the folly of/Icarus the reek/of burning feathers of hot wax.“

In Ryans Versen finden entgrenzende Wünsche und Erfahrungen eine Sprache, ohne peinlich privat zu sein. Ihr Körperkontinent jedenfalls ist unendlich und lädt zur Entdeckung ein. Bedauerlich, daß die Hamburger dieser Autorin nicht auf einer Lesung begegnen konnten. Aber vielleicht gibt es ja auch bei uns demnächst Poems on the Underground. Frauke Hamann