■ Metallrunde NRW: Der Flächentarifvertrag zerfällt
: Die Macht des Faktischen

Seit gestern hat das System der Sozialpartnerschaft eine neue Stufe seines Zerfalls erreicht. Auf dem Spiel steht der Flächentarifvertrag. Jahrzehntelang galt er als Garant für ein geregeltes Nebeneinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Und seit langem ist allen bewußt, daß die Auseinandersetzung um die Lohnfortzahlung über seine Existenz entscheiden wird. Harald Schartau, der IG-Metaller, und Martin Kannegiesser, der Arbeitgebervertreter, können sich nun die Schuld zuweisen. Der Wunsch, den Flächentarifvertrag und damit das deutsche Konsensmodell weiterzuführen, war Illusion.

Denn dafür sind wohl beide Parteien zu schwach und die Angst vor dem Arbeitsplatzabbau zu groß. Nach einer Studie des Ifo-Instituts schreibt jedes dritte Unternehmen rote Zahlen, 700.000 Arbeitsplätze sind davon betroffen. In Baden-Württemberg gehören nur noch 36 Prozent der Metall-Unternehmer einem Arbeitgeberverband an, in den neuen Bundesländern sind es noch nicht einmal 30 Prozent. Und in den Betrieben zählt nur noch eins: Arbeit zu haben. Das sei wichtiger als der Tarifvertrag, meint selbst IG-Metall-Bezirkschef Kohlbacher aus Frankfurt (Oder). Schartau wußte dies, bevor er sich mit Kannegiesser an einen Tisch setzte, um einen für alle verbindlichen Vetrag auszuhandeln.

Faktisch löst sich das System selbst auf. Über die Hälfte der ostdeutschen Betriebe ist aus dem Flächentarifvertrag bereits ausgestiegen. In anderen Branchen sieht es ähnlich aus. Und längst werden in manchen Betrieben Krankenstand und Zulagen miteinander verhandelt. Melden sich bei Opel in Bochum mehr als sechs Prozent der Mitarbeiter krank, wird das Weihnachtsgeld reduziert. Dies sind speziell auf die jeweiligen Betriebe ausgehandelte Regelungen, die sich an modernen Arbeitsformen orientieren. Weil aber die Arbeitsstrukturen selbst innerhalb einer Branche sehr differieren, lassen sie sich nicht im großen Block des Flächentarifs festschreiben. Den Gewerkschaften bleibt damit flächendeckend kaum noch Gestaltungsspielraum. Sie können Rahmenbedingungen aushandeln, um etwa Lohnsteigerungen und Inflationsausgleich durchzusetzen. Sie können über Jahresarbeitszeiten verhandeln. Die Forderung nach vollem Lohn bei Krankheit wird freilich auf regionaler Ebene ausgetragen. Allein dort liegen noch Chancen, den Unternehmen Solidarität abzuhandeln. Zugegeben, eine dürre Aussicht. Annette Rogalla