Die unendliche Variabilität des Selbst

■ Meiner ist schöner als deiner: Eine illustre ExpertInnenrunde diskutierte in der Weißenseer Brotfabrik die aktuellen Gestaltungsmöglichkeiten am eigenen Körper

Dichterisch wohnet der Mensch, und „alle Hüllen des Menschen werden zu Designobjekten, von der Landschaft über die Stadt, die Häuser und die Dinge bis hin zu Kleidung und dem Körper“, heißt es leicht bedauernd in der Presseinformation der „Galeriegespräche zur Gestaltung der Gegenwart“, die noch bis zum 2. Dezember in der Weißenseer „Brotfabrik“ stattfinden. Ging es bei den ersten drei – betont mehrsinnig „StadtGestalten“ betitelten – Abenden noch um „Freiräume“, „Gebäude“ und das „Verhältnis von Architektur und Kunst“, bekümmerte man sich am letzten Dienstag um den Körper.

„Der Körper ist das Haus, in dem ich wohne“, sagte der leicht esoterisch angehauchte Mario vom Tattoo- und Piercingatelier „Blut und Eisen“. Und Körper werden immer aktueller. 90 Prozent aller Deutschen sind unzufrieden mit ihrem Körper und würden gern was dran ändern, heißt es in der Zeitschrift fit for fun. Die gehen dann ins Sportstudio, um ihren Körper neu zu modellieren. Das ist nicht schön, findet Wolfgang Kaschuba, Ethnologe an der Humboldt-Uni, und warnte vor dem Zwang der Normierung. Hinter dem 70er-Jahre-Satz „Wer joggt, lebt länger“ sah er die Drohung „Wer nicht joggt, lebt kürzer“ – und führte „dramatische Zahlen“ an: „Sechs Millionen“ junge Frauen zieht es in Fitneßstudios.

Die plastische Chirurgin Dr. Christian (!) Fry dagegen wollte sich der Kritik an der Körperverbesserung nicht so recht anschließen. Die meisten, die sie unters Messer bekomme, seien aktive Menschen, die sich nach Fettabsaug- und Faltenwegmacheingriffen eben wohler fühlen würden.

Das fand Theodor Vetter, der sich „Tattoo-Theo“ nennt und aus St. Pauli angereist war, nicht so gut: Er kenne viele Prostituierte, die sich ständig schönheitsoperieren ließen. 100 Mark würden die in der Woche für so was ausgeben. „Darfst dann nicht mehr anfassen an die Brust, weil sich das dann verschiebt“, meinte der 65jährige. Auch würden die sich viel zuviel schminken und parfümieren. Er dagegen verwende „nur Kernseife“, habe zwar mal einen Herzinfarkt gehabt, sei aber ansonsten „kerngesund“.

Der ganzkörpertätowierte Ex- seemann, der „im tiefsten Milieu von St. Pauli“ aufwuchs, sorgte für viel Spaß und Unterhaltung. Sein erstes Tattoo habe er sich als kleiner Junge „mit Ofenruß und Pisse“ gemacht. Inzwischen haben „über 220 Tätowierer an meinem Körper gearbeitet. Ich zieh' mich auch gern aus und zeig das.“ Staunend betrachtete man seinen Oberkörper. „Darf ich auch mehr zeigen, oder stört sich da jemand dran?“ Unter eher ablehnendem Gemurmel begann sich Herr Vetter bis auf seine Brille zu entblößen, derweil Moderator und Gesprächsreihenorganisator Thomas Herr leicht pikiert das Wort an Ulla Gosmann weitergab, die kurz über die Geschichte der Körperhygiene sprach.

Während man sich früher auf Haut und Poren konzentriert habe – „genauso fleißig wie der Bürger soll auch seine Haut sein“, deshalb müsse sie ständig gerubbelt werden und oft an die frische Luft –, sei man jetzt bei den Zellen und dem Kampf gegen ihren Alterungsprozeß angelangt, erklärte die Gelsenkirchener Journalistin. Zwar wollte sie nicht in das „zivilisationskritische Gedröhn“ vom Schönheitszwang und Körperwahn einstimmen, in jedem Fall jedoch würden dem Körper auf dem Weg von der Funktion zur Repräsentation zu viele Aufgaben zugemutet. Auch High-Tech-Kosmetika, die eigentlich Pharmazeutika seien, seien bedenklich.

Das findet der Visagist Markus Wollank nicht, der zunächst mit Perücke als schöne Frau am Tisch saß, um später und ohne Perücke seine Lust am Identitätstausch zu demonstrieren. Wollank bewundert das Rokoko und sagte oft modebewußte Sachen wie: „Heute fragt man doch gar nicht mehr: Wer bin ich?, sondern: Wie viele?“ oder „Die Wahrheit ist doch nur eine aufgedeckte Lüge.“

Yvonne und Mario dagegen vom Atelier „Blut & Eisen“ hielten sich an das Konkrete und zeigten Dias von diversen Tätowierungen, die sie an sich und anderen gemacht hatten. Frauen bevorzugten „florale Motive“, sagte Yvonne. Traditionell tribalistische Ornamentik sei immer noch sehr gefragt. „Hier sieht man einen Insektenfreund, der Insekten haben wollte. Hier wollte einer seine Organe auf der Haut tragen. Die Hakenkreuzsymbolik tritt in letzter Zeit auch wieder häufig auf.“ Wobei das nicht faschistisch gemeint sei, sondern „eher einen spirituellen Background“ habe.

„Viele pfeifen inzwischen darauf, daß sichtbare Tattoos ihnen bei der Jobsuche hinderlich sein könnten“, und während früher Leute oft ihre Tattoos wegmachen wollten, „tendiert man heute zum Größermachen oder Übermalen“.

„Ihm war danach, und er ließ sich Narben ins Gesicht schneiden“, sagte Mario über einen Mann, dessen Gesicht ein bißchen indianermäßig aussah. Brandings und Cuttings mache er jedoch nur privat. „Da steht dann das Ritual im Vordergrund, da geht es vielleicht auch um ein Blutopfer.“ In jedem Fall mache er so was nicht für Geld.

Dezent wurde die Flucht in den Körper als letzten freien Gestaltungsraum kritisiert. Viele ihrer meist jugendlichen Kunden würden tatsächlich sagen, daß man nichts verändern könne, sagte Yvonne. „Viele finden auch Schmerzen interessant.“ Daß Leute beim Tätowierungsvorgang sexuell erregt werden, wie Tattoo- Theo erzählte, konnte sie nicht bestätigen. Die Sitzungen dauern jedoch, und wahrscheinlich denke man oft an Sex, wenn man so lange rumliege, ohne was zu tun. In der nächsten Folge der „Galeriegespräche“ am 2.12. um 20 Uhr wird man sich mit „Ereignissen“ beschäftigen. Detlef Kuhlbrodt