Berlin ist Heimweh

■ Stadt im Film (VII): Als seist du hier noch unbehaust - das kahle, schwarzweiß gefilmte Schöneberg, dort wohnt das Glück!

Kollege Wackwitz hat's schon ausgeplaudert, für seine Person und Tokio: Das Geheimnis einer Stadt im Kino liegt darin, in welchem Ausmaß die Kinostadt Sehnsucht und Heimweh zu erwecken vermag. Sogar bei den Einheimischen, wie Woody Allens New-York-Filme seit „Annie Hall“ zeigen, so paradox das wirkt: Du verläßt das Kino und wirst von unstillbarer Sehnsucht nach der großen Stadt erfüllt, die du eben wieder betrittst und in der du gleich deine Wohnung aufsuchen wirst – oder lieber die Bar, um wenigstens für eine Stunde das Gefühl auszukosten, du seist hier ein Fremder, noch unbehaust.

Berlin-Filme, die es mit Woody Allen aufnehmen könnten, sind bekanntlich inexistent; darüber wollen wir nicht klagen. Es gibt genug Kinomaterial, das Berlin- Heimweh zu füttern, wobei ich gestehe, daß ich „Der Himmel über Berlin“ anzuschauen mich geweigert habe; denn: Metaphysische Interessen sind diskreter zu verfolgen als sexuelle Perversionen, sonst wird man wie Wim Wenders eine einzige große Peinlichkeit.

Besonders geeignet, Sehnsucht und Heimweh auch der Einheimischen zu wecken, sind natürlich Filme, die ein Berlin zeigen, das de facto unbetretbar ist. Das hat vielen DDR-Filmen, die mir ansonsten wenig schmeckten, wenn sie Ost-Berlin zeigten, den gewissen Reiz verliehen. Daraus erkläre ich mir auch die treue Anhänglichkeit, die ich den historischen Exemplaren der Serie „Polizeiruf 110“ wahre, dem „Tatort“ der DDR. Dort erscheint Ost-Berlin immer wieder zwingend als die staubige Idylle, der abgerissene Hortus conclusus, der es in Wirklichkeit weder war noch werden konnte.

Apropos „Tatort“: Vor allem einer, mit Martin Hirthe als Kommissar, treibt sich in meiner Erinnerung herum, der den Hortus conclusus des einstigen ummauerten West-Berlin evozierte (ich lebte damals in München). Damit haben wir ein treffliches Kriterium, den Heimweh- und Sehnsuchtsgehalt eines Berlin-Films zu bestimmen: die Zeit, die, je älter der Film ist, fortschreitend die faktische Unbetretbarkeit der Stadt, die er zeigt, bewirkt. Schon das „Bad Westberlin“ (Bodo Morshäuser) des Hirthe-„Tatorts“ ist ganz unerreichbar, auch wenn man die gefilmten Straßen unverändert in der Gegenwart anträfe.

Das friedliche West-Berlin der siebziger und achtziger Jahre unterscheidet sich natürlich gründlich vom West-Berlin des kalten Krieges – in Carol Reeds „The Man Between“ mit James Mason oder Billy Wilders „One Two Three“ mit James Cagney und Horst Buchholz (das seinerzeit, wie K. sich erinnert, unmittelbar nach dem Mauerbau, nur Kopfschütteln hervorrief und dann im Bad Westberlin der Achtziger ein solcher Hit wurde) oder in André de Toths „Man on a String“, und wie sie alle heißen. Ich muß gestehen, daß mich diese Stadt immer recht kalt gelassen hat. Faszinieren konnte das Ost-Berlin der Filme, weil es so offensichtlich nicht on location gefilmt war. Gern erinnere ich mich an den „Bahnhof Friedrichstraße“, den James Mason vom Osten her zu überwinden hat, irgendeine westliche Großbaustelle. Diese Inszenierung einer komplett imaginären „Hauptstadt der DDR“ hat Alfred Hitchcock auf die Spitze in „The Torn Curtain“ getrieben: Paul Newman muß sich nicht nur aus der DDR in den Westen, sondern zugleich aus der Imagination in die Wirklichkeit zurückkämpfen.

Horst Buchholz: An „Die Halbstarken“ und „Endstation Liebe“ heften sich erhebliche Heimweh- und Sehnsuchtspotentiale. Mehr können Berlin-Filme der Nachkriegszeit kaum abstrahlen. Insbesondere treibt sich in der Erinnerung ein kahles, schwarzweiß gefilmtes Schöneberg herum, wo Hotte bolzt, mit seinen Eltern streitet, vorsichtige Liebesspaziergänge mit seinem Mädchen unternimmt, von dem ich ohne Hemmung behaupten würde: „Dort wohnt das Glück.“ Jeder kann auf Anhieb für sich mehrere Goldene Zeitalter benennen. Eines der meinen bildet also fraglos das West- Berlin der fünfziger Jahre, wie Gerd Oswald und Georg Tressler es gefilmt haben, und Horst Buchholz kann es als Local Hero ohne weiteres mit James Dean oder Gérard Philippe aufnehmen (der in Ost-Berlin kanonisiert wurde). Ich bin sicher, daß Tresslers und Oswalds West-Berlin der Fünfziger die Augen des Flaneurs leitete, wenn er das sozialistische Ost-Berlin der Siebziger und Achtziger besichtigte und vor den kahlen, entfärbten, ruinösen Fassaden schwärmerisch behauptete, dies sei mehr, intensiver, dichter Berlin als sein Glitzerding im Westen.

Nun wird es Zeit, daß ich auf meinen ultimativen Berlin-Film komme, den Goldstandard gewissermaßen, an dem „Endstation Liebe“ wie der Hirthe-„Tatort“ sich mißt: „Menschen am Sonntag“, 1929 geschrieben von Billy Wilder und Curt Siodmak, Regie Robert Siodmak, Fred Zinnemann und Edgar Ulmer, ein Meisterstück außerhalb jeder Reihe.

Eigentlich kaum nacherzählenswert, zwei junge Paare, Angestellte mit wenig Geld, unternehmen einen Ausflug ins Grüne, wobei es zu schmerzlichen Liebesverwicklungen kommt. Seine Kraft als Berlin-Film gewinnt „Menschen am Sonntag“ außerdem daraus, daß er die große Stadt selbst nur andeutungsweise inszeniert, den eigentlichen Schauplatz bilden Berlins Seen und Wälder, in die der Angestellte sonntags aus der großen Stadt entkam. „Menschen am Sonntag“ spielt sozusagen an der Grenze zwischen Natur und Kultur: der ideale Quellort für Mythisches, sagt die Anthropologie. Eine der schönsten und berühmtesten Berlin-Fotoserien von Heinrich Zille, „Reisigsammlerinnen“, zeigt die Stadt ebenso vom Land aus und gewinnt dieselbe mythische Qualität.

Es fällt nicht schwer, „Menschen am Sonntag“ mit „Endstation Liebe“ und „Die Halbstarken“ zu verbinden. Es geht um Liebesgeschichten, denen du nur zuschauen darfst. Einmal um die der älteren Brüder sozusagen – 1957 war Horst Buchholz 24, ich 14 –, das andere Mal die Liebesgeschichte der Eltern, als sie jung waren, eine Liebesgeschichte, die stets völlig rätselhaft bleibt. Die Sehnsucht gilt ja nicht der Jugend als solcher, sondern einer Zeit, in der grenzenloses Sehnen noch möglich war, weil Erfüllung wie Enttäuschung ausstanden.

Aber das sagt nichts über den Berlin-Gehalt. Heimweh und Sehnsucht wecken „Menschen am Sonntag“ ebenso wie der Neorealismus von Oswald und Tressler, weil diese Filme durch und durch zivile Geschichten erzählen, die Vorkriegszeit, die Nachkriegszeit; damals stand die Katastrophe aus, jetzt ist sie vorüber. Gern habe ich mir immer ausgemalt, Helmut Käutner habe seinen Film „Unter den Brücken“ 1945 in Berlin gedreht, während der Kriegsereignisse Kanäle und andere Wasser gefunden, die wie im tiefsten Frieden dalagen. Auch diese Binnenschiffergeschichte spielt ja an der Grenze von Natur und Kultur.

Vom Nazi-Berlin, dem Herzen der Finsternis, findet sich in der Erinnerung kein Filmbild. Nicht gedacht soll seiner werden. Danach wird erst mit „A Foreign Affair“ aufgeblendet, die Trümmerstadt vom Flugzeug und vom Auto aus, die dann, einigermaßen geräumt, dem zivilen Leben in der Gestalt von Horst Buchholz und Barbara Frey wieder einen Schauplatz bietet. Und hier hat seit den Sechzigern dann auch unsereins, die Bundesrepublik verlassend, mit Leidenschaft zu siedeln begonnen. Michael Rutschky