Engelkopfkino

■ Das Theaterprojekt „Das Buch der Engel“ macht die Stadt zur Bühne

Wäre die persönliche Erinnerung ein Tier, sie stünde auf der Liste der bedrohten Arten. „Die Erinnerungskompetenz schrumpft, immer mehr Wissen wird maschinell gespeichert“, glaubt Autor und Theatermacher Michael Batz. Mit seinem Projekt Das Buch der Engel hat er dem Vergessen den Kampf angesagt.

Die Idee: 18 Laienschauspieler und -schauspielerinnen treten an sieben Orten in Hamburg auf und lassen sich durch ihre Umgebung und deren Geschichte inspirieren. „Wir machen die Stadt zur Bühne“, sagt Batz. So soll sich ein Fenster öffnen zum imaginären „Buch der Engel“, in dem die Träume und Erinnerungen Verstorbener aufgehoben werden. Jeder Auftritt bildet ein neues Kapitel.

Batz' Engel haben nichts zu tun mit Pausbacken und nackten Hintern auf Wolken. „Engel sind Medien, die als Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart auftreten“, erklärt der Autor. Nachdenken sollen seine Zuschauer, Generationen sollen miteinander reden. Das gilt auch für die Darsteller. Batz hat Schauspieler ausgesucht, die zwischen 22 und 72 Jahren alt sind. Sie kommen vom Thalia-Treffpunkt und von der Volkshochschule Hamburg-Mitte.

Nach dem Erfolg des ersten Projektteils zu urteilen, könnte das Buch der Engel ein imaginärer Bestseller werden: Fast 300 Menschen kamen in den Bunker unter dem Hauptbahnhof und blieben nach der Aufführung, um mit den Darstellern zu diskutieren. „Wir setzen ein Kopfkino in Gang“, beschreibt Batz die Wirkung der Spielorte. Was die Zuschauer zu sehen bekommen, sind keine fertigen Stücke mit festen Regieanweisungen. Die Schauspieler improvisieren und lassen sich von Gefühlen und Erinnerungen leiten. „Deshalb sind die einzelnen Teile auch nicht kritikfähig“, erklärt Batz. Erst am Ende des Projekts will die Gruppe alle sieben Kapitel zu einem Theaterabend zusammenfügen. Das Vorwort zu jedem Kapitel schreibt Michael Batz selbst. Er wählt den Spielort aus und informiert sich über ein Ereignis, das dort früher die Hamburger bewegte. Dazu verfaßt Batz eine kurze Szene, die als Grundlage für das Stück dient. Alles weitere entscheidet sich am Abend der Aufführung.

Daß auch Engel vor organisatorischen Schranken halten müssen, lernte Batz schnell. Einige Wunschorte konnte er nicht für eine Aufführung bekommen, beispielsweise den Pater Nosta im Springer-Gebäude. Statt dessen werden die Schauspieler im Fahrstuhl der Finanzbehörde auf und ab fahren.

Das nächste Kapitel im Buch der Engel schreibt die Gruppe heute abend 19 Uhr in der Altonaer Johanniskirche. Hier inszenierte die SA 1933 eine Massenhochzeit von und für Reemtsma-Mitarbeiterinnen – eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, denn verheiratete Frauen versorgten zu Hause Kind und Herd. Die Arbeitsplätze wurden damit für Männer frei. Wie die Schauspieler dieses Ereignis behandeln, steht noch nicht fest – auf jeden Fall wollen sie es den Zuschauern in Erinnerung rufen.

Judith Weber