Kultureller Quantensprung

■ Gutachter entlarvt „Musicon“-Pläne als hochtrabend und hält Realisierung für schwierig

Monatelang war es still um das ehrgeizigste Bremer Kulturprojekt: Das Konzerthaus „Musicon“, das ein privater StifterInnenkreis nach Plänen des Star-Architekten Daniel Libeskind auf der Bürgerweide errichten will. Für September, so die letzte Nachricht, sollte das bei keinem geringeren als bei Roland Berger & Partner in Auftrag gegebene Gutachten vorliegen. Mit fast achtwöchiger Verspätung hat der Förderkreis diesen Bericht unter dem Titel „Besucherpotentialanalyse für das Musicon Bremen“ jetzt herausgegeben und... wahrte zunächst weiter Stillschweigen. Dies mit gutem Grund: Denn auf den ersten Blick sind die Ergebnisse niederschmetternd, auf den zweiten Blick bemerkenswert und erst auf den dritten so ermutigend, daß der Kreis das Projekt nicht sofort fallen gelassen hat.

Im Gegensatz zur ersten Wirtschaftlichkeitsanalyse des Münchener Gasteig-Geschäftsführers Eckard Heintz und des Theatermanagers Ulrich Schwab holt das Gutachten der Unternehmensberatung Roland Berger die hochfliegenden Pläne der „Musicon“-Initiative auf den Boden der Tatsachen zurück. „Die heutigen Konzertbesucher Bremens können eine wirtschaftliche Auslastung des Musicon nicht gewährleisten“, heißt es da. Und die von Heintz und Schwab zugrundegelegte Zahl der Musicon-PilgerInnen in Höhe von 540.000 im Jahr wird mit den realen Zahlen von 150.000 BesucherInnen von klassischen Konzerten, Opern, Operetten oder Musicals verglichen und somit als illusorisch gekennzeichnet. Auch die bislang als möglich kalkulierten 300 Veranstaltungen im Jahr werden von Berger auf realistische 180 heruntergekürzt. Die Folge: Die Zahlen, mit denen der Förderkreis bislang hausieren ging, sind Hirngespinste. Und dennoch glauben auch Berger & Partner, daß ein wirtschaftlicher Betrieb unter bestimmten Bedingungen möglich sein könnte.

Die Analyse des tatsächlichen Betriebs in Sachen Klassik bis leichte Muse liefert den Schlüssel dazu. Wer immer geglaubt und auch öffentlich verkündet hat, daß Bremen eine „Musikstadt“ sei, wird durch das Gutachten eines anderen belehrt. Gestützt auf eigene Recherchen, auf Regionalstudien anderer Institute sowie auf Angaben des Deutschen Städtetags weist Berger nach, daß sich in Bremen weit weniger BesucherInnen durch „Konzerte der Kulturorchester“ angesprochen fühlen als in anderen Städten. Auf 1.000 Einwohner kommen nur 69 BesucherInnen oder Besuche im Jahr. In München liegt dieser Wert doppelt und in Berlin fast zweieinhalb Mal so hoch. Weit abgeschlagen ist die Hansestadt im Vergleich mit zehn weiteren westdeutschen Großstädten im Bereich der szenischen Veranstaltungen wie Tournee-Musicals, Oper, Operette oder Ballett. Hinzu gesellt sich die nach dem Gutachten unverändert „mäßige touristische Attraktivität Bremens“. Die im 30seitigen Papier versteckte Konsequenz: „Ein Quantensprung in der Qualität des Veranstaltungsangebots.“

Bei diesem Satz vom Quantensprung muß man kein Defätist sein, um den Umkehrschluß zu ziehen: Trotz aller Anstrengungen kommt Bremen nicht über den Provinzstatus hinaus. „Selbst kleinere Städte verfügen heute über ein umfangreiches Kulturangebot“, heißt es bei Berger. Der empfohlene Ausweg: Die möglichst exklusive Verpflichtung von KünstlerInnen mit internationalem Rang. Trotz dieser sehr hoch gelegten Maßstäbe gibt sich der Mitbegründer und Sprecher des „Musicon“-Förderkreises, der Ex-Gewoba-Geschäftsführer Eberhard Kulenkampff, auch nach Erhalt des Berger-Gutachtens optimistisch. „Die Untersuchung untermauert die Notwendigkeit des Musicon“, erklärte er gestern gegenüber der taz. Bremen habe sich in den vergangenen Jahren auf konventionelle Anstrengungen beschränkt. Die Annahme, daß man mit der Sanierung der Glocke oder Kunsthalle die große Wende einleiten kann, hält Kulenkampff für völlig ausgeschlossen. Hinter vorgehaltener Hand werde diese Einschätzung auch von PolitikerInnen geteilt.

Rund 100 Millionen Mark werde der Bau des „Musicon“ kosten, wobei von einer 100prozentigen Baufinanzierung durch Spenden schon lange keine Rede mehr ist. Hinzu kämen Vorlaufkosten zwischen 10 und 20 Millionen Mark, um das Konzert- und Veranstaltungshaus zu etablieren. Darauf weist auch das Berger-Gutachten ausdrücklich hin und hält einen Betrieb nur dann für möglich, wenn das Konzept von den anderen HauptveranstalterInnnen mitgetragen wird. Die „Musicon“-Betriebskosten müßten auf ein minimales Niveau gedrückt werden und der Bau zugleich über eine optimale Akustik verfügen. Keine leichte Aufgabe, minimalen Aufwand und höchste Qualitätsmaßstäbe zu vereinen. Der Förderkreis indes will auch mit dem neuen Zahlenmaterial weiter für den „großen Wurf“ hausieren gehen. ck