„Oh Gott, das war mein Vater“

Lebenslange Freiheitsstrafe für türkischen Vater, der seine Tochter erstach. Die 19jährige hatte nicht mehr zu Hause wohnen wollen. Die Familie hat sich von dem Angeklagten losgesagt, das Urteil ist für sie wie ein Befreiungsschlag  ■ Von Plutonia Plarre

Mit Tränen in den Augen standen die jungen Türkinnen da und nickten stumm mit den Köpfen, als gestern das Urteil gegen ihren Vater erging. Lebenslange Freiheitsstrafe für den 55jährigen Süleyman T. wegen Mordes an seiner 19jährigen Tochter Seva. Der Angeklagte, der den gesamten Prozeß zusammengesunken dagesessen hatte, schaute auch dieses Mal nicht auf. In seinem letzten Wort vor dem Urteilsspruch hatte er mit matter Stimme gesagt: „Ich bin tiefster Reue und werde die Strafe, wie immer sie ausfällt, auf mich nehmen“.

Der Richterspruch ist das letzte Kapitel einer tragischen Familiengeschichte türkischer Immigranten. Süleyman T. kam 1970 aus Anatolien nach Deutschland. In seinem Heimatdorf war der Vater von neun Kindern, sechs Töchter und drei Söhne, ein angesehener Mann gewesen. In Deutschland gelang es ihm jedoch nicht, richtig Fuß zu fassen. Erst arbeitete er als Metallarbeiter, dann machte er ein Geschäft auf, das aber bald pleite ging. Es folgte die Arbeitslosigkeit. Süleyman T. begann, zunehmend Alkohol zu trinken und seine Familie zu tyrannisieren. Er war gekränkt in seiner Autorität, daß seine als Putzhilfe arbeitende Frau zusammen mit den berufstätigen Kindern für den Lebensunterhalt der großen Familie sorgte. Seine unberechenbaren Wutanfälle bekam vor allem seine Ehefrau ab, die vor seinen Prügeln sogar einmal in ein Frauenhaus flüchtete.

Seine älteste Tochter Belkiz verließ die Familie, weil ihr der Vater das Studium verbot. „Wir haben ihn alle gehaßt“, erzählte die 16jährige Tochter Sema. „Die einzige, die es gewagt hat, ihm die Meinung zu sagen, war Seva“, sagte sie.

Seva wollte im vergangenen Sommer nicht mehr einsehen, daß sie mit ihren 19 Jahren nur bis 22 Uhr weggehen durfte und zog deshalb zu ihrer Freundin Jana. Weil sie sich trotz mehrfacher Aufforderung ihres Vaters weigerte, nach Hause zurückzukehren, mußte sie am 14. Juli sterben. Süleyman T. hatte in der Tatnacht angetrunken vor dem Schnellrestaurant in Prenzlauer Berg gewartet, in dem Seva arbeitete. Er hakte sie unter und ging mit ihr fort. Unter dem Gleimtunnel stach er mit einem Küchenmesser unvermittelt sieben Mal zu. Und das mit solcher Gewalt, daß sich das Messer dabei vollkommen verbog. Sevas letzte, von Zeugen vernommenen Worte waren: „Oh Gott, daß war mein Vater.“

Vor Gericht sagte Süleyman T., er habe Seva nach Hause holen wollen. In seiner türkischen Bekanntschaft habe es schon geheißen, seine Tochter treibe sich herum wie eine Hure. Auf dem Heimweg habe ihn Seva mit den „bösen Worten“ provoziert: „Ihr könnt mich mal alle am Arsch lecken.“ Da habe er die Beherrschung verloren. Der Mann wirkte vor Gericht gebrochen und versicherte, daß er Seva sehr geliebt habe, wie alle seine Kinder. Sie seien für ihn „wie Blumen in einem Blumengarten“. Der psychiatrische Sachverständige sagte, Süleyman T. habe von sich das Selbstbild eines gütigen, verständnisvollen Vaters. „Er hat sich nicht wie ein herrschender Sultan empfunden sondern wie ein Freund.“ Die Familie hat sich seit der Tat vollkommen von Süleyman T. losgesagt. Seine Frau bat das Gericht unter Tränen, ihn nur ja im Knast zu lassen. „Wir haben kein Mitleid mit ihm. Er ist ein sehr guter Schauspieler“, sagte seine Tochter Sema. In Wirklichkeit sei der Vater nicht am Boden zerstört, sondern stolz darauf, die Ehre der Familie gerettet zu haben. „So ist er, wir kennen ihn.“ Zu Hause fühlt sich Sema wie aus einem Gefängnis befreit. Selbst die Mutter traue sich nun, eine eigene Meinung zu haben.

Die große Frage in dem Prozeß war, ob das Urteil Mord oder Totschlag lautet. Das Gericht entschied auf Mord und verhängte eine lebenslange Freiheitsstrafe, weil es der Auffassung war, daß Seva arg- und wehrlos war und vom Vater heimtückisch umgebracht wurde.

Der Vorsitzende Richter Friedrich-Karl Föhrig ließ jedoch keinen Zweifel daran, daß er Süleyman T. lieber eine zeitlich befristete Freiheitsstrafe gegeben hätte. Im Vergleich zu anderen Morden, bei denen die Beweggründe wesentlich niederer als im vorliegenden Fall seien, sei die Strafe für den Angeklagten nicht wirklich gerecht. Der Gesetzgeber lasse den Richtern in dieser Frage aber keinen Spielraum.