„Und morgen kauf' ich mir neue Beine“

Am Sonntag ist Welt-Aids-Tag, zum elften Mal. Auch wenn noch immer kein rettendes Heilmittel in Sicht ist: Valérie und Anna aus Berlin haben beschlossen zu leben – mit Aids und zusammen  ■ Von Theo Heimann (Fotos) und Constanze von Bullion (Text)

Espresso Nummer eins gibt es um kurz nach sechs. Draußen ist es stockfinster. Anna taumelt schlaftrunken in die Küche, füllt Wasser und schwarzes Kaffeepulver in die Kanne, stellt das Blechding auf den Herd. Dann kriecht sie noch mal unter die Decke und läßt die Augen zufallen. Bis der sanfte Kick von Valérie kommt.

In der Küche brodelt der Kaffee, Anna rollt sich wieder aus dem Bett, kommt mit zwei kleinen weißen Tassen zurück. Einen Löffel Zucker für Valérie, schwarzen Sud für Anna, Zigaretten für beide. Jeden Morgen das gleiche Spiel. Immer ist es Anna, die Kaffee kocht. Immer ist es Valérie, die im Bett bleibt. Weil sie nicht aufstehen kann ohne Anna. Weil Valérie Aids hat und „doofe Beine“. „Morgen“, sagt sie, „morgen kauf' ich mir ein paar neue.“

Es wird nicht gestorben an Aids, es wird gelebt mit Aids in der geräumigen Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg. Valérie Jacqueot und Anna Mathioudakis (Namen geändert) teilen sich drei Zimmer, die genug Platz lassen für den ganzen Krempel. Für die zerlesenen Bücher und bekritzelten Zettel, die sich auf dem Schreibtisch türmen. Für den taubenblauen Kachelofen, den Rollstuhl und den Fernseher vor dem großen Bett. Und für den Holztisch in der Küche, wo Anna Frühstück macht für Valérie.

Valérie Jacqueot, das ist eine Frau, die kein Opfer sein will. Eine große Frau, deren dunkle Augen von einer Sekunde zur anderen angriffslustig blitzen können. Sie ist die Frau, die sich jeden Morgen von Anna waschen läßt. Die sich die Haare kämmt und die Zähne putzt und ihren Arm um Annas Schultern legt, damit sie mit vorsichtigen, wackeligen Schritten in die Küche laufen kann. Wenn Anna mal wieder redet für sie, grinst Valérie nur seelenruhig. Ab und zu läßt sie eine gepfefferte Bemerkung fallen, die wehmütige Sentimentalitäten im Keim erstickt. Valérie Jacqueot, das ist die Frau, in die Anna Mathioudakis sich verliebt hat. „Bei einer Beerdigung. Das ging schon gut los.“

Daß sie „ziemlich viel gelacht“ haben, erinnert sich Anna, „bei einem typisch tristen Begräbniskaffee“. Rumgekaspert haben die beiden bis spät in die Nacht. Bis zum Abschied in der U-Bahn. Aus dem dann doch nichts wurde auf Dauer. Vier Jahre ist das her. „Vallie hat mir gleich erzählt, daß sie positiv ist. Sie sah aus wie das blühende Leben.“

Valéries Leben hat 1965 in einem kleinen Dorf im französischen Jura angefangen, „wo deine Nachbarn nur Kühe und Tannenbäume sind“. In Besançon hat sie studiert: Erdkunde und Geschichte, außerdem Philosophie, Soziologie und Psychologie. Eines Tages setzte sich ihre beste Freundin auf eine Südseeinsel ab, „da bin ich auch abgehauen“. Nach Berlin.

Ronald Reagan war gerade in der Mauerstadt zu Besuch, als sie im Juni 1987 in Kreuzberg stand: Auf den Straßen tobten die Demos, das ganze Viertel war abgeriegelt von der Polizei. „Ist doch nett hier“, dachte Valérie sich, „lauter grüne Männchen, wie auf einem anderen Stern.“ Sie ist geblieben. Hat in Eckkneipen und einem französischen Restaurant gekellnert, später Kinder gehütet, „kleine Monster, die immer nur vor dem Fernseher sitzen wollten“.

Damals wohnte sie schon in einer Wohngemeinschaft mit ihrer Freundin Kathie. Die trennte sich eines Tages von ihrem Freund. Und mit dem verbrachte Valérie dann einen Nachmittag im Bett. Keine wichtige Sache, ein Flirt aus Laune. Zwei Jahre später klingelte das Telefon. Kathies Ex war dran. Daß er HIV-positiv sei. Valérie und Kathie marschierten zusammen zum Aidstest. Kathie war negativ, Valérie positiv. „Da haben wir erst mal eine Flasche Whiskey gekauft und geheult.“

Es klingelt an der Wohnungstür. Hereinspaziert kommt ein junger Mann in Jeans, auf dem Kopf ein blauer Irokesenschitt, die Ohren sind ein halbes dutzendmal gepierct, unter den hellen Augen ein schwarzer Strich Kajal. Else heißt diese Pflegerin, die Einkäufe vom Markt mitgebracht hat: Spinat, Zwiebeln, Milch. Else kommt von HIV e.V., einem ambulanten Pflegedienst für Aidskranke. Die ehemalige Baggerfahrerin ist Küchenfee und Kammerzofe, sie putzt, legt Infusionen oder massiert Valéries Füße, wenn Anna bei der Arbeit ist: eine echte Perle, unverzichtbar. „Valérie und ich sind Leidensgenossinnen“, erkärt Else. „Ich helfe hier, weil ich mir Gedanken mache, was mal wird, wenn es bei mir losgeht.“

Wenn es losgeht. Wenn der Körper sich zum erstenmal verweigert. „Bis dahin versuchst du so normal wie möglich weiterzumachen. Aber die Krise kommt, sobald du es fühlen kannst. Dann lebst du mit Angst und Schlaflosigkeit. Und die Gedanken drehen sich im Kreis.“

Jetzt ist es Anna, die erzählt, als hätte sie selbst einen positiven HIV- Befund. In einer Spaghetti-Werbung könnte diese energische Frau mit dem weichen Gesicht auftreten. Umstandslos macht sie sich an den Kochtöpfen zu schaffen – begleitet von Valéries Anweisungen: „Erst das Öl, dann die Bohnen!“

Anna Mathioudakis, Tochter griechischer Gastarbeiter, strahlt entspannende Wärme aus, ein Hausmütterchen ist sie nicht. Die studierte Germanistin spricht Deutsch und Französisch wie ihre Muttersprache und verdient ihr Geld in einem Baubüro. Das erste Mal ist es nicht, daß sie mit Krankheit und Tod konfrontiert ist. „Mir sind schon früher etliche Freunde weggestorben.“

„Weggestorben“, das Wort kann Valérie nicht ausstehen. Es klingt so nach „weggeworfen“, nach alten Schuhen. Das Eis kann dünn werden, auf dem sich die beiden bewegen. Zumindest, was die Worte angeht. „Mit Krankheit und Tod umzugehen“, weiß Anna, „da hat man doch nicht die leiste Ahnung von. Schritt für Schritt lernst du, dich damit zu bewegen.“ Aids, sagt sie dann, „das ist sowieso nur ein Brennspiegel von dem, was vorher war. Wir wissen nicht mit dem Tod umzugehen, weil wir nicht wissen, wie wir mit dem Leben umgehen.“

Um ihr Leben zu kämpfen begann Valérie vor drei Jahren. „Da habe ich mir eine Psychose geleistet“, erzählt sie. Nur ungern erinnert sie sich an die Nacht vor dem Fernseher. An die digitale Uhr am Videogerät, die wie eine Zeitbombe langsam auf Null zutickte, während der Film seinem Ende zulief. Mit einem Schlag war sie ganz sicher: daß bei Null alles, die Wohnung, Anna und sie selbst hochgehen würden. Minuten später fand sie sich barfuß auf dem Kreuzberg wieder, Anna war ihr dicht auf den Fersen. Da wollte Valérie nur noch in eine Klinik. Und landete in der Psychiatrie.

Daß Aids kein langsames Sterben ist, sondern eine Achterbahn von Absturz und neuer Hoffnung, haben Valérie und Anna gelernt. „Heute geht es Vallie gesundheitlich viel besser als vor einem halben Jahr“, erzählt Anna, „das hat viel mit ihrer psychischen Verfassung zu tun.“ Und mit dem, was Anna auf den Tisch stellt: Lammkoteletts mit Knoblauch, Butterbohnen und frischen Spinat. Valérie ißt den Teller leer, dann spielen ihre Beine plötzlich verrückt, „so blöde Muskelkrämpfe“. Anna hilft ihr auf das schwarze Sofa. Da nimmt sie den nächsten Espresso. Und sortiert den Nachtisch.

„Morgen“, „Mittag“, „Abend“, „Nacht“ steht auf der langen, weißen Plastikschachtel mit den Fächern für die Pillen. Eine rostrote Kapsel, das Magnesium. Eine weiße Pille gegen Herpes. Eine rosarote mit Vitamin B. Dann die kleine Tablette gegen Gehirnkrämpfe. Plus zwei dicke, weiße Kapseln, eine kleine orangefarbene und eine Pille in Rautenform: drei Protease-Hemmer, die neue Kombinationstherapie aus den USA. Nebenwirkungen? „Ach was. Nur Brechreiz, ein verändertes Blutbild, Verdauungsstörungen und Gewichtsverlust“, meint Valérie. „Heute stirbt man doch nicht mehr an Aids, man stirbt an einer kaputten Leber.“

Ob Zynismus hilft gegen die Wut? Zumindest gegen „diese Scheiße mit dem Mitleid“, wenn Valérie rausgehen will. Anna zieht ihr die Jacke an, setzt sie auf den Treppenabsatz, hievt erst den Rollstuhl die Stufen runter und dann die Freundin. Draußen schieben sich die beiden an den Marktständen vorbei, Valérie macht Faxen mit zwei kleinen Kindern. „Manche Leute schockiert das. Lachen im Rollstuhl, das darfst du nicht.“ Im Gedrängel stößt eine junge Frau sie an, lächelt unsicher. Daß sie schimpfen würde, wünscht sich Valérie, „dann könnte ich wenigstens mal zurückschnauzen“.

Beim Arzt im Sprechzimmer dann der kleine Countdown: Valérie wird Blut abgenommen, der immergleiche Blues um Viren und Helferzellen. Ein breites Tuch legt Anna Valérie um die Schultern, während sie auf das Testergebnis warten. „Ich war mal auf drei Helferzellen runter“, erzählt Valérie, „die hatten schon Namen. Aber seit ich dieses Gingko- Präparat nehme, geht's wieder aufwärts. Und ich kann mit den Nebenwirkungen der Protease-Hemmer leben.“ Das Gingko-Präparat, auf das sie schwört, heißt PB 100. Den Wirkstoff, ein Produkt des Gingko-Baumes, entdeckte der Franzose Mirko Beljanski für die Aidstherapie. Zugelassen ist der Stoff in Deutschland nicht. „Zu billig“, meint Valérie, „da verdient die Pharmaindustrie zuwenig.“ Dann endlich kommen die neuen Blutwerte. 231 T-Zellen sind es diesmal, 231 mikroskopisch kleine Hoffnungsträger.

Zurück in die Wohnung, draußen wird es dunkel und kühl. Valérie macht es sich auf dem Sofa gemütlich und blättert in einem Fotoalbum. Urlaubsbilder kleben neben Fotos von alten Freunden: Kathie zwischen vergnügten Leuten am Tisch, auf dem Schoß sitzt ihr Kind. Daneben zieht Valérie Grimassen. Und auf den letzten Seiten die Serie mit immer gleichem Motiv: Anna nach der Arbeit, Anna kommt nach Hause, Anna ist da.

Die sortiert inzwischen ein paar Rechnungen. „Ich habe den ganzen Papierkram von Vallie übernommen“, erzählt sie. Anna kümmert sich um die Krankenkasse, verhandelt mit der Hausverwaltung oder vertröstet die Telekom: Offizielle Sprecherin für Valérie ist sie geworden. Daß Aids auch eine Frage von endlosen Kämpfen mit den Behörden ist, daß es eine nervenaufreibende Rennerei durch die Bürokratie nach sich zieht, erlebt Anna jeden Tag. „Eine Zumutung“, weiß sie. „Für die Patienten bedeutet das einen enorme psychische Belastung.“

Was wird aus einer Beziehung zwischen soviel Nützlichkeiten? Aus Liebe, Streit, alltäglichen Querelen? „Eine ruhige Wohnung war das hier noch nie“, sagt Anna. „Wenn was anliegt, muß es geklärt werden, und zwar gleich.“ Wer den beiden zuschaut, wie sie sich heben und festhalten, in die Arme fallen oder abknutschen, kann nur ahnen: wie schmal der Grat zwischen Fürsorge und Leidenschaft, zwischen Zupacken und Anfassen geworden ist. Valérie, wie immer pragmatisch, bringt die Sache mit dem Sex auf dem Punkt. „Klar hat sich da viel verändert. Aber vielleicht küssen wir uns dafür mehr als jedes andere Liebespaar auf der Welt.“