Das Unbehagen in der Popkultur

Ist Pop endgültig zum Agenten der Kontrollgesellschaft geworden? Ein Sammelband gibt Antwort  ■ Von Thomas Groß

Gute Zeiten, schlechte Zeiten, wohl wahr: Wenn 1996 für Pop das Jahr war, in dem aus Super Love Parade Giga Love Parade wurde, die Credibility-Rocker von R.E.M. einen Vertrag über 80 Millionen Dollar mit den Warner-Brüdern abschlossen, alle vom Wetter redeten, nur Viva nicht, Drum'n'Bass- Tracks in „Sportschau“-Trailern auftauchten, die SPD ihren Sonderparteitag von Graffiti-Künstlern aussprühen ließ, alle Chefredakteure mehr lustigen Techno verlangten und sogar das Zeit- Feuilleton angekündigt hat, sich der Jugendkultur in ihrer Dynamik nicht länger verschließen zu wollen, mag irgendwie endgültig eine Dimension der allgemeinen Verpoppung erreicht sein, die endgültig irgendwie nach Sätzen wie folgendem verlangt: „Pop klingt wie die repräsentative Lüge einer Gesellschaft, die in ihrer scheinbaren Diversifizierung die ungeheuerlichste Kapitalkonzentration erlebt und die in ihrer scheinbaren Freiheit die scheußlichsten Formen von Ausbeutung und Ausschluß einführt.“

Zack! Das mußte mal gesagt werden! Mit schmutzigen Wörtern wie „Kapitalkonzentration“ drin! Neu ist nicht, was Tom Holert und Mark Terkessidis, Herausgeber des Sammelbands „Mainstream der Minderheiten“, in ihrer Einleitung formulieren, neu ist die Qualität des Impetus, mit dem Sachverhalte in die Gestalt eines Aussagesatzes gebracht werden. Das Kind beim Namen nennen, sich endlich mal auf ganzer Linie trauen, dem hedonistischen Fluß der Phänomene, womöglich gegen die eigene Neigung, vielleicht auch gegen das Gefühl von Mitschuld am State of the Art, eine neue Verbindlichkeit gegenüberzustellen – dies ist der zentrale Wunsch hinter der ansonsten reich ausdifferenzierten analytischen Rede. Und er mag sich dem Eindruck verdanken, den Wechselbalg Pop als Musikschreiber mit launigen Artikeln und Coolness-Programmen so lange mitgepäppelt zu haben, bis aus „interessanten Fransen und Wucherungen“ (Holert/Terkessidis) mehr und mehr o.g. Fratze herausschaute.

Die Form der elf Beiträge entspricht denn auch nur noch in Ausnahmen dem Gestus des Musikartiklertums, wie wir es bislang kannten. Es geht im Gegenteil darum, zu einer Sprache zu finden, die unkontaminiert ist von den Wirrungen des Fantums und seinem affektiven Investment in den Gegenstand Pop, all den Preisungsritualen und mimetischen Zugängen („definitiv beste Band“, „ultimativ neueste Chose“), die man nun – in einem Salto aus dem Business-as- usual heraus – immer schon im Komplott mit der Tonträgerindustrie wähnt. So viel Besinnung war nie. Sie äußert sich in einem Sound der aggressiven Enttäuschung, der seinen düpierten Heroismus sogleich auf neuen Feldern zu erproben sucht: Inhaltlich drängt er ins Grundsätzliche – die allgemeinen Bewegungsgesetze des Spätkapitalismus, das ganz große Dahinter –, formal bewegt er sich zwischen Seminar, Suchbewegung und Historisierung, zugleich Trauerarbeit und Reformation.

Christoph Gurk etwa, Chefredakteur von Spex, unternimmt den prometheischen Versuch, die „Janusköpfigkeit von Popkultur zu denken“: Zwar ist der Rockrebell der paradigmatische Sprenger aller Ketten, die (post-)moderne Verkörperung des Freiheitskämpfers, doch je mehr er sich selbst aus Bindungen freisetzt, desto klarer wird auch, daß sein Abschied von der Tradition zugleich der Befreiung zu immer neuen Märkten dient, die am Ende kaum noch von Regulativen gezähmt sind: der Rocker als Avantgardist von Flexibilisierung und Globalisierung. Eine Überprüfung von Horkheimer/Adornos „Kulturindustrie“- Kapitel aus der „Dialektik der Aufklärung“ hinsichtlich seiner Aussagekraft für die postmoderne Ökonomie führt Gurk zu dem etwas referatartigen Resümee, wie jede andere Kultur vereine „Pop sowohl unterdrückerische Momente als auch ihr Gegenteil, meistens in ein und demselben Werk“.

Im Freiheitsknast des Hedonismus

Ganz absägen mag man den Ast, auf dem man selber sitzt, verständlicherweise nicht, aber Wetten darauf werden auch keine mehr angenommen. Christian Höller untersucht den theoretischen Ursud, aus dem letztlich alle popistischen Subversionsrhetoriken der letzten 20 Jahre zusammengeköchelt sind, macht also dankenswerterweise einmal explicit, womit im wilden Denken jünglicher Männer oft mehr ahnungsweise und stichwortartig hantiert wurde: „Woher kommt eigentlich die Idee, daß Popkultur so etwas wie einen sozialen Ort habe oder ein politisches Potential besitze? Daß Pop so etwas wie Widerstand gegen eine herrschende Ordnung sei?“ Es sind, nun wiederum nicht so erstaunlich, zwei Schulen, die diskursstiftend waren: die Gruppe von Wissenschaftlern am Birminghamer Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS – klingt doch schon mehr nach Rockband als „Institut für Sozialforschung“, was?) und das mikropolitische Duo Deleuze/Guattari. Beide lieferten, mit mehr oder weniger Akzent auf dem klassischen Subjekt „Arbeiterklasse“, Argumente, sich als unterdrückte Minderheit in einem symbolischen Kampf zu begreifen und gleichzeitig dem Zugriff der Macht „nomadisch“ zu entkommen – wobei allerdings der Hase (oder Maulwurf) dem Igel gegenüber heute noch chancenloser geworden ist: „Die großen Konzerne, die sozialen Segmentierungen, der Ballast einer mittlerweile lange zurückreichenden Popgeschichte: Sie alle sind immer schon simultan mit einem da.“

Der Ballast aus 40 Jahren, er scheint wie ein Alpdruck auf den heutigen Generationen zu lasten. Man will raus aus der inneren DDR des Hedonismus, der plötzlich wie ein gigantischer Freiheitsknast ohne Mauern erscheint. Doch wo kein Vater mehr zu morden ist und keine Grenze zu überschreiten, geht die Bewegung in einer Spitzkehre zurück zu den alten Autoritäten und Klassikern der Theorie – eine Strategie der Rückenstärkung. Der Einleitungsaufsatz der Herausgeber, der die ansonsten durchaus diversen Einzelbeiträge nicht ganz ungewaltsam unter ein Leitmotiv stellt, handelt viel von „Kategoriensystemen“, die sich „schwerwiegend gewandelt“ haben, von Fragen, die „aufgeworfen“ werden, und Steinen, die nicht länger aufeinander bleiben wollen. Die Sprache spannt sich an ihr Äußerstes, bildet Begriffsketten („Das totalisierende Moment der ökonomischen Kräfte tendierte weiter dahin, vereinheitlichend auf das kulturelle Warenangebot einzuwirken ...“), um sich gegen die fürsorgliche Belagerung durch repressive Toleranzen überall da draußen zu armieren.

Willing Herolde des Untergangs

Bis zuletzt der Knoten sich schürzt und eine Art Generalsicht der Popdinge entsteht. In Fortführung Foucaults und unter Rückgriff auf Deleuze diagnostizieren Holert und Terkessidis einen Übergang von der „Disziplinargesellschaft“ zur „Kontrollgesellschaft“. Während im fordistischen Zeitalter die Fabrik den Produzentenkörper nur in der Arbeitszeit direkt in Anspruch nahm, also ein Rest blieb, der sich der Disziplinierung durch Institutionen wie Familie, Schule und Arbeitsplatz entzog, will die postmoderne Kontrollgesellschaft auch deine Seele: 24 Stunden Musikfernsehen auf mehreren Kanälen sind nur der sichtbarste Ausdruck einer Entwicklung, die auch die letzten Reservate der Dissidenz in den gesellschaftlichen Mainstream eingliedert, die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit hyperflexibel auflöst und – letzte Volte – jugendliche Subjekte zu Beihilfen genau dieser Durchsetzung degradiert: Kohl's willing consumers.

Die Dinge einmal in dieser Zuspitzung zu sehen mag einiges für sich haben, in jedem Fall entspricht es einem Unbehagen in der Popkultur, das einem – ich schließe mich nicht aus – an allen Ecken und Enden des Dorfes begegnet. Doch im Bedürfnis, den Sack mal so richtig dichtzumachen, verbirgt sich auch ein nicht immer leicht zu ertragender Theorienarzißmus. So wie Hegel glaubte, sein eigenes Kind, der Weltgeist, würde ausgerechnet zu Zeiten des deutschen Idealismus herabsteigen und zu sich selbst finden, herrscht, entgegen allen Lippenbekenntnissen zu den nach wie vor progressiven Anteilen von Pop, auch hier ein geheimes Vergnügen am Definitiven vor: Alles zu Ende ... und wir hätten's gerade noch rechtzeitig gemerkt... Lustvoll negiert das bislang im Popdiskurs geltende Kulturpessimismusverbot sich selbst und entdeckt im Umschlag ein kleines bißchen Horrorschau. Anders formuliert: Wenn die Sache mit der Popkultur schon am Abkacken ist, so will man wenigstens noch einmal den Herold gespielt haben.

Indes: Ob das jüngste Gericht bereits getagt hat, ist noch lange nicht ausgemacht. „Mainstream der Minderheiten“ ist ein Band, der sich als Baukasten entschieden lustiger liest denn als Masterplan. Ein Rhizömchen Selbstironie hätte gelegentlich gutgetan bei so viel männlich denkerisch gerunzelter Stirn. Auch ist der Eindruck nicht abzuschütteln, es seien letztlich doch mehr innere als äußere Bedrückungen, die hier das Wort gaben. Insofern ist Holert auch gegen ihn selbst zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die entscheidende Frage bleibt auch hier unbeantwortet: Wer hat keinen Platz in der Gemeinschaft der Hirne gefunden?“

Tom Holert/Mark Terkessidis (Hg.): „Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft“. Edition ID-Archiv, Berlin/ Amsterdam 1996, 190 S., 28 DM

Die Herausgeber stellen ihre Thesen auch live zur Diskussion: Heute, 20 Uhr in Berlin, „Klasse 2“, Schröderstraße; am 8.12., 20 Uhr in Hamburg, Pudels Club