Die 40tonner stellen sich weiter quer

Der französische Transportminister erklärt die Auseinandersetzung mit den Lkw-Fahrern für „erfolgreich beendet“, aber die Blockaden gehen weiter. Die Fahrer sind nicht überzeugt  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Freiheit heißt, in die Gewerkschaft zu gehen“, prangt auf dem roten Plakat, das auf dem weißen Lkw klebt. Er ist quer über die einspurige Straße gestellt. Vorbeikommen können nur ganz kleine Autos. Sie müssen sich halb auf dem Trottoir, halb in der freigelassenen Gasse zwischen den großen Reifen und dem Bordstein hindurchschlängeln. Anschließend landen sie in einem Labyrinth von kreuz und quer geparkten Vierzigtonnern, die zentimeterdicht aneinandergeparkt sind. In den knappen Zwischenräumen stehen Männer mit tief in die Stirn gezogenen Mützen und winken die Balancefahrer mit lauten Zurufen weiter.

Ahnungslos war der deutsche Lkw-Fahrer Mario am Freitag einem französischen Laster in Richtung Sogaris-Lagerhallen am Großmarkt Rungis im Süden von Paris gefolgt. Wie alle zwei Tage wollte er seine Ladung Päckchen löschen. Er fuhr von der Autobahn ab, direkt hinter einem französischen Lkw her, dicht gefolgt von einem portugiesischen Kollegen. Auf der Brücke vor der Lagerhalle stellte sich plötzlich der Lkw vor dem Deutschen quer. Hinter dem Portugiesen vollzog sich synchron dasselbe Manöver. „Das schnappte zu wie eine Zange“, beschreibt Mario.

Seither sitzen der Deutsche und der Portugiese in der Straßensperre von Rungis fest. Zusammen mit einem Belgier und einem Finnen bilden sie die unfreiwillige internationale Abteilung der französischen Kollegen, die für eine vorgezogene Verrentung, für höhere Löhne und Überstundenausgleich streiken. Was um sie herum passiert, ahnen der Deutsche, der Portugiese und der Finne nur. Französisch können sie nicht. Die Flugblätter und die Vollversammlungen verstehen sie nicht. Wie die Franzosen gehen sie den ganzen Tag über zwischen den parkenden Lkws auf und ab, wärmen sich an dem Lagerfeuer neben der verglasten Bushaltestelle des 396 auf und essen, was die besuchenden Gewerkschafter als Gastgeschenke mitbringen. Daß in Frankreich ein Lkw-Fahrer-Streik war, hatte Mario gewußt. Aber daß der Streik schon so nah an Paris herangekommen war, ahnte er nicht. Mario sieht viel jünger aus, als seine gleichaltrigen französischen Kollegen. Er lächelt spitzbübisch, hat noch nie gestreikt, dafür aber viele Selbstverständlichkeiten, die für seine französischen Kollegen keine sind. „Ein deutscher Lkw- Fahrer verdient 3.000 Mark im Monat“, sagt er, „plus Spesen.“ Seine Überstunden und wenn er beim Abladen hilft, werden mitbezahlt, „ist doch klar“. Und in der Gewerkschaft ist Mario auch. „In der ÖTV“, sagt er, „sind wir doch alle.“ Ihm wäre es lieber, sein Chef würde das nicht wissen. Aber wirklich stören tut es ihn nicht.

Bei allen Sprachbarrieren hat Mario Verständnis für den Streik. Er hätte schließlich selber auch keine Lust, an die 100 Stunden im Monat umsonst zu arbeiten, erklärt er. Aber daß fünf verschiedene Gewerkschaften in den Streik verwickelt sind und daß die Sache schon so lange dauert – das übersteigt sein Fassungsvermögen. Über Aristides, den Portugiesen, heißt es, daß er ein bitterböses Gesicht macht, wenn er allein im Führerhäuschen seines mit Maschinen beladenen und seit Freitag blockierten Lkw sitzt. Aber wie er in sein Käsebaguette am Lagerfeuer an der Bushaltestelle beißt und in der anderen Hand eine Büchse Bier hält, lächelt er den französischen Kollegen freundlich zu. Aristides ist nun schon zum zweiten Mal Opfer eines Lkw-Fahrer- Streiks in einem anderen europäischen Land geworden. Das letzte Mal waren es die Spanier, und er blieb tagelang in den Pyrenäen stecken. Solange er steht, verdient der Portugiese nichts. Er lebt vom Kilometergeld. „Natürlich haben die recht, wenn sie streiken“, sagt er, „aber sie sollen mich doch bitte schön weiterfahren lassen.“

Die 50 französischen streikenden Lkw-Fahrer haben an diesem ersten verschneiten Wintertag andere Sorgen als die Zukunft ihrer ausländischen Kollegen. Am Morgen hat der Verkehrsminister die Verhandlungen mit Arbeitgebern und Fuhrunternehmern für erfolgreich beendet erklärt.

In Rungis, wie an den über 250 Straßenbarrieren, ist die Reaktion auf die Regierungserklärung eindeutig. „Wir machen weiter“, sagt der Patrick Kuhnel, kommunistischer Gewerkschafter, der seit über 20 Jahren Lkws steuert und dafür nicht einmal 2.000 Mark im Monat bekommt. Sie sollen keinen Überstundenausgleich bekommen und nur eine winzige Lohnerhöhung.

Auch mit der Regelung für eine vorgezogene Rente sind die Streikenden nicht einverstanden. „Wir müssen die zusätzlichen Beiträge selber bezahlen. Wenn das so läuft, haben wir elf Tage praktisch umsonst gestreikt“, erklärt einer. Die genauen Regelungen sollen erst noch in einer Arbeitsgruppe ausverhandelt werden, und überhaupt trauen die Streikenden dem Abkommen erst dann, wenn es auch unterschrieben ist. „Wer weiß, wer dieses Land im nächsten Monat regiert“, sagt einer. An der Kontrollstelle zwischen den Vierzigtonnern kommt Lärm auf. Der junge Fahrer eines Kleintransporters will partout nicht umkehren. Dabei hat er Päckchen geladen. Ein Streikender sagt ihm ganz ruhig: „Das wollen wir mal sehen.“ Schiebt ein mit langen Nägeln bestücktes Stück Holz unter den Reifen des Lieferwagens und winkt ein paar Kollegen herbei. Nach wenigen Minuten hat der Kleintransporterfahrer ein Einsehen und dreht mit laut aufheulendem Motor um.

„Stimmt es, daß wir morgen los dürfen“, fragt der junge Deutsche den französischen Kollegen an der Kontrollstelle. Der Belgier will so etwas im Radio gehört haben. „Hä?“, erwidert der Streikende und winkt einen Pkw weiter, dessen Kofferraum schon kontrolliert ist. Dann zieht er seine Strickmütze noch tiefer in das runde Vollbartgesicht und brummelt: „Das glaube ich nicht.“