Hamburger Lesezeichen

■ Eine Frau balanciert - auf größerem Fuß durch die Nazi-Zeit

Ein normales Leben wollte sie führen, etwas aufregender und eigenständiger jedoch, als es vor und während des zweiten Weltkrieges für junge Frauen üblich war. Als Gertrud Rosenbaum 1936 als 22jährige nach Hamburg zieht, bringt sie einen großen Lebensentwurf mit: Als Bibliothekarin am Aufbau der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen (wie auf der Veddel/Foto) beteiligt, will sie dem Volk Bildung und Wissen vermitteln, will in Kultur und Schönheit schwelgen, im Beruf wachsen und Erfüllung finden in tiefer, ewigwährender Zweisamkeit.

Nicht alles gelingt, und nicht nur der Krieg ist verantwortlich dafür. Mit mehr Egozentrik als Verstand steht sich die junge Frau oft selbst im Weg, hält fest an romantischen Vorstellungen davon, wie ihr Leben sein soll, unbedingt. Krieg, Politik nimmt sie als Störung ihres persönlichen Weges wahr. Die anderen Menschen und deren nicht selten größeres Leid erkennt sie zwar, kompensiert es meist aber durch Mitleid, zuweilen mit Abscheu.

Gertrud Seydelmann, geborene Rosenbaum, schildert in „Gefährdete Balance“ ihre Hamburger Jahre zwischen 1936 und 1945 aus einem halben Jahrhundert Abstand. Doch ohne kritische Distanz zu ihrer jugendlichen Begeisterung am schönen Schein der Hamburger Patrizierhäuser und den kleinen trunkenen Zirkeln, wo gemeinsam gelesen, Theater gespielt, gefeiert wird – während andere deportiert und vernichtet wurden. Sie habe nicht auffallen wollen, überleben wollen und von vielem nichts gewußt, schreibt sie.

Ihre naive Egozentrik ist streckenweise ebenso ärgerlich wie die augenscheinlich wenig intensive Bearbeitung ihrer Aufzeichnungen durch den Verlag. Aber in dieser „unzensierten“ Weise verdeutlicht das Buch, wie sehr ein Leben auch während der Nazi-Zeit ein privates sein konnte. Und es beschreibt aus Insidersicht die Anfänge der jetzt sterbenden Bücherhallen. win

Gertrud Seydelmann: Gefährdete Balance, Ein Leben in Hamburg 1936-1945, Junius Verlag, Hamburg, 240 Seiten, 36 Mark