Der Souverän entmündigt sich selbst

Per Volksabstimmung hat Algerien seine neue Verfassung angenommen. Die Opposition spricht aber von Institutionalisierung der Diktatur und zweifelt die hohe Wahlbeteiligung an  ■ Von Reiner Wandler

Madrid (taz) – Blitzlichtgewitter. Präsident Liamine Zéroual gab als einer der ersten im Wahllokal in El Mouradia im Osten der Hauptstadt Algier seine Stimme ab. Umringt von Leibwächtern nutzte er die Gelegenheit und richtete sich an die im Militärkonvoi eigens herbeigekarrten Journalisten. „Jetzt stimmt das Volk ab, lassen wir ihm diese Freiheit des Souveräns.“ Ein Souverän, der sich selbst entmachtet, denn die von Zéroual in Auftrag gegebene neue Verfassung ist angenommen worden. 86 Prozent Ja-Stimmen bei „einer Rekordbeteiligung“ von über 75 Prozent, vermeldet das staatliche Radio.

Die demokratischen Rechte des Volkes, erkämpft bei der Revolte 1988, festgehalten in der liberalen Verfassung von 1989 und seit Anfang 1992 mit Militärstiefeln getreten, nachdem die Islamische Heilsfront (FIS) den ersten Wahlgang der Parlamentswahlen gewonnen hatte und die Generäle putschten, werden jetzt ganz legal der Macht des Präsidenten weichen.

„Eine Institutionalisierung der Diktatur“, ein Gesetzeswerk, das „jedwedem friedlichen politischen Wechsel vorbeugt“, warnte die Opposition vor der neuen Verfassung und rief dazu auf, mit Nein zu stimmen oder gleich ganz zu Hause zu bleiben. Umsonst: Algerien ist künftig ganz offiziell ein „arabischer, berberischer und islamischer Staat“. Da Staatsziele nicht als politisches Programm benutzt werden dürfen, müssen viele Parteien um ihre Zulassung fürchten. Gruppierungen, die für die Rechte der 25 Prozent starken Minderheit der Berber eintreten, sind Regionalparteien und somit verboten. Islamischen Parteien kann ebenfalls die Genehmigung entzogen werden – eine endgültige Festschreibung des FIS-Verbots.

Eine Wahlrechtsreform soll künftig unangenehme Überraschungen bei Urnengängen verhindern. Bei den Juni 1997 vorgesehenen Parlaments- und Kommunalwahlen wird das Verhältniswahlrecht das bisher gültige Mehrheitswahlrecht ablösen. Der Grund für diese Änderung: Mit nur einem Drittel der Stimmen erreichte die FIS 1991 zwei Drittel der Direktmandate.

Der Präsident ist jetzt allmächtig. In den Parlamentsferien regiert er allein; er besetzt die hohen Verwaltungsämter – unter ihnen der Justizpräsident und der Vorsitzende der Zentralbank; er kann den Haushalt selbst verabschieden, falls sich die Volksvertreter nicht binnen 65 Tagen einigen; eine neu gebildete zweite Kammer kann gegen jede Parlamentsentscheidung ein Veto einlegen. Ein Drittel der Abgeordneten dieser zweiten Kammer wird direkt vom Präsidenten berufen.

„Ruhig und von Normalität geprägt“, sei der Wahltag dank der 350.000 aufgebotenen Polizisten und Soldaten gewesen, verlautbarte die Regierung. Zwei Bombenanschläge mit mindestens einem Toten, ein im Zentrum der Hauptstadt von der Polizei erschossener mutmaßlicher Fundamentalist und die Bombardierung der Berge bei Blida paßten allerdings nicht so recht in das friedliche Bild und wurden verschwiegen. Die Region um das hundert Kilometer südlich von Algier gelegene Blida war Hauptziel der Anschlagsserie der Islamisten. Seit Monatsbeginn wurden 150 Zivilisten getötet.

Die Opposition zweifelt an der hohen Wahlbeteiligung. Der Vorsitzende der „Versammlung für Kultur und Demokratie“ (RCD), Said Sadi, spricht von höchsten 35 Prozent Wahlbeteiligung. Vor allem in der Berberregion Kabylei, wo die Bevölkerung am Tag zuvor mit einem Generalstreik gegen die in der Verfassung vorgesehene Einführung des Arabischen als einzige Staatssprache protestierte, hätten nur knapp 15 Prozent gewählt. Selbst die Regierung kam nicht umhin zuzugeben, daß die Bevölkerung nicht überall mit gleicher Begeisterung zu den Urnen ging, und sprach von 23 Prozent in der Kabylei, 55 Prozent in der Hauptstadt und 40 Prozent bei den Auslandsalgeriern. Dies sei allerdings durch eine bis zu 90prozentige Beteiligung auf dem Lande wieder wettgemacht worden.