Das Ende ohne Fesseln

Siemens-Vorstand beschwört den Niedergang der Industrienationen. Grenzen für den Markt werden im Wissenschaftszentrum NRW diskutiert  ■ Von Walter Jakobs

Wuppertal (taz) – Manche trauten beim Vortrag von Hans Günter Danielmeyer ihren Ohren nicht: „Die Industriegesellschaft“, so gestand das Vorstandsmitglied der Siemens AG am Ende ungeschminkt ein, „löst unsere Probleme nicht.“ Alle Versprechen, die Arbeitslosigkeit in den entwickelten Industriegesellschaften nach dem Muster der vergangenen Jahrzehnte über Wachstumsprozesse abzubauen, hält Danielmeyer für reine Scharlatanerie.

Der Physiker, der für den Siemens-Konzern mit seinen Modellen Entscheidungshilfen für künftige Investitionen erstellt, ist sich nach dem Studium der historischen Entwicklung der Industriegesellschaften sicher, daß der ökonomische Aufbau nach einer Art Glockenkurve verläuft.

Während China und der asiatische Raum noch ein jahrzehntelanges Wachstum bis zum Gipfelpunkt der Glocke vor sich hätten, seien Deutschland und die anderen hochentwickelten G7-Länder längst auf der abfallenden Seite der Glocke angelangt. Kaschiert werde die Situation nur dadurch, daß die Industrieländer an dem asiatischen Infrastrukturaufbau in hohem Maße beteiligt seien.

In Asien erwartet Danielmeyer in den nächsten 40 Jahren einen gigantischen Investitionsboom, „acht- bis zehnmal soviel wie in allen G7-Staaten zusammen“. Wenn dieser Boom abgeschlossen sei, komme auf die alten Industriegesellschaften erst die „wirkliche Herausforderung zu“, denn „dann können sie nirgendwo mehr hinziehen“. „Sehenden Auges“ sieht Danielmeyer die Industriegesellschaften in die soziale, ökologische und ökonomische Krise taumeln. Politisch unkontrollierbar? Unsteuerbar? Zu dieser Frage schwieg sich der Siemens-Manager vor dem hochkarätigen Publikum beim Jahreskongreß des nordrhein-westfälischen Wissenschaftszentrums in der vergangenen Woche in Wuppertal leider weitgehend aus. Lediglich der dürre Hinweis, daß „soziale Investitionen und Innovationen“ nötig seien, kam ihm über die Lippen.

Doch da sprangen andere ein. Am konkretesten fiel der Beitrag des Hohenheimer Ökonomen Gerhard Scherhorn aus. Punkt für Punkt entwickelte der Experte für Konsumtheorie und Verbraucherpolitik die politischen Handlungsmöglichkeiten, die im Zeitalter der verschärften Globalisierung eine soziale und zugleich nachhaltige Entwicklung möglich machen könnten. Dabei warb Scherhorn in einem leidenschaftlichen Plädoyer für einen „neuen Gesellschaftsvertrag“, ohne den die soziale und ökologische Krise nicht abwendbar sei.

Das Fundament dieses Vertrages müsse die Neubewertung der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Natur bilden. Ein Hebel für Scherhorn ist dabei die Ökosteuer. Die Verteuerung des Naturverbrauchs bei gleichzeitiger Entlastung des Faktors Arbeit hält Scherhorn zunächst auch im nationalen Alleingang für machbar. Durch Ausgleichsabgaben auf Importe aus Ländern mit niedrigen Umweltstandards könne die eigene Wirtschaft „gegen Wettbewerbsverzerrungen abgesichert werden“.

Doch eine Vollbeschäftigung im klassischen Sinne, also die Versorgung aller Arbeitsuchenden mit einem „Normalarbeitsverhältnis“, würde auch durch eine solche Politikwende – und da liegt Scherhorn ganz nah bei der Analyse des Siemens-Managers – nicht möglich. Diese Zeiten seien vorbei. Hinzu kommen müsse eine Arbeitszeitverkürzung „im großen Stil“ bei gleichzeitigem Ausbau des informellen Sektors.

Scherhorn geht es darum, die ökonomische Abhängigkeit des einzelnen vom Markteinkommen zu reduzieren. Durch Tauschen, Mieten und Teilen von Gütern und Dienstleistungen ebenso wie durch Selbstherstellen. Die „Früchte der Globalisierung“, so sein Fazit, seien nur zu ernten, wenn neben der ökologischen Steuerreform, der Arbeitszeitverkürzung und der Förderung der informellen Wirtschaftstätigkeit die Kontrolle der „explosiven Entwicklung auf den Geld- und Kapitalmärkten“ gelinge: etwa durch „Eindämmung der staatlichen Kreditnachfrage und die Einführung einer globalen Börsenaufsicht“. Wenn der Prozeß dem Markt selbst überlassen werde, seien wachsende Umweltzerstörung und die weitere soziale Verelendung unabwendbar.

Auch die amerikanische Zukunftsforscherin Hazel Henderson warb in Wuppertal für eine weltweite Besteuerung des Naturverbrauchs und des globalen Geldverkehrs. Wenn sie wollten, so Henderson, „könnten die nationalen Zentralbanken die Währungsspekulationen in den Griff kriegen“. Ohne Regeln für den Devisenhandel könne man die Regulation des internationalen Warenhandels vergessen. Es gehe darum, daß der Staat sich nicht zur „Geisel der Märkte“ machen lasse. Statt dessen müßten regionale Begrenzungen gesetzt werden. Henderson wörtlich: „,Zurück zum Dorf‘ ist nicht die richtige Antwort.“ Es komme auf eine andere Globalisierung an, eine „Basisglobalisierung der zivilen Gesellschaft“. So gebe es in den USA zum Beispiel einen ethischen Anlagefonds, der mit einer Einlage von 1,5 Milliarden Dollar die Geschäftspolitik vieler Firmen beeinflusse.

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Chef des Wuppertal Instituts für Klima, Energie und Umwelt, warnte davor, „Grenzen einfach aufzuheben“. Das sei eine „zerstörerische Ideologie“. Wie in biologischen Systemen die Membranen eine Schutzfunktion ausübten und verhinderten, daß der lebenswichtige Stoffwechsel zusammenbreche, seien Begrenzungen auch für ganze Gesellschaften unverzichtbar – nach dem Muster der Membranen, die für einen kontrollierten und selektiven Ein- und Austritt von Stoffen sorgen. Ins gleiche Horn stieß in Wuppertal auch Wouter van Dieren vom Club of Rome. Wenn man den Markt sich selbst überlasse, werde die Weltwirtschaft zum „globalen Casino“ für eine kleine Elite, warnte van Dieren. Denen gehe es dann „prima, aber die Gesellschaft ist pleite“.