Proteste in Belgrad weiten sich aus

Erstmals gehen rund 200.000 Menschen gegen Slobodan Milošević auf die Straße. Mit Streikaufrufen und Gegenparlamenten will die Opposition die Macht des Präsidenten weiter aushöhlen  ■ Von Erich Rathfelder

Split (taz) – Das demokratische serbische Oppositionsbündnis läßt nicht locker. Die Massendemonstrationen gegen die Annullierung der Wahlergebnisse in Städten, wo die Opposition bei den Wahlen am 17. November Mehrheiten gewonnen hatte, haben am Wochenende einen neuen Höhepunkt erreicht. Mehr als 200.000 Menschen demonstrierten in Belgrad. Die Aktionen sollen nach den Vorstellungen der Führungstroika der Opposition, dem Vorsitzenden der serbischen Erneuerungsbewegung, Vuk Drašković, der Menschenrechtsaktivistin Vesna Pesic und des Vorsitzenden der Demokratischen Partei, Zoran Djindjic, auf die Betriebe ausgeweitet werden.

Sie hoffen, daß manche Gewerkschaften zum Streik aufrufen werden. Weiterhin soll ein Netzwerk freier Städte entstehen. „In allen Städten und Gemeinden, in denen wir bei den Kommunalwahlen die Mehrheit errungen haben, werden wir als basisdemokratische Alternative einen eigenen Stadtrat einsetzen“, erklärte Djindjic am Samstag. Schon zuvor hatte die Opposition ihre verbliebenen Mandatsträger aus vielen Gemeindeparlamenten zurückgezogen. In Belgrad und Nis hatte die Opposition die Nachwahlen vom 27. November ohnehin boykottiert.

Die Protestbewegung hat sich damit weiter radikalisiert. Sie fordert nicht nur die Anerkennung der Wahlergebnisse, sondern den Sturz des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević. Die Demonstranten sehen sich als Teil einer Demokratiebewegung, die das letzte totalitäre kommunistische Regime in Europa stürzen will.

Folgten zumindest ein Teil der Gewerkschaften dem Aufruf, Streiks zu organisieren, würde das Milošević-Regime tatsächlich in Bedrängnis gebracht. Denn bisher hatte die Sozialistische Partei des Präsidenten die Betriebe kontrolliert. Noch zögert das Regime, offen mit repressiven Mitteln gegen die Protestbewegung vorzugehen. Wie schon zuvor, beobachteten auch an diesem Wochenende lediglich Hunderte von Geheimdienstleuten die Demonstranten und machten Fotos. Die Opposition vermutet, daß Verhaftungslisten erstellt werden. Die Polizeitruppen haben sich bisher strikt zurückgehalten. Die von Milošević aufgebauten Sondereinheiten der Polizei, die mehr als 50.000 Mann umfassen sollen, stehen jedoch zum sofortigen Einsatz bereit.

Noch versucht Milošević die Aktionsmöglichkeiten der Opposition durch Druck auf die wenigen noch freien Medien einzuengen. Schon am Mittwoch konnte die Tageszeitung Blic, die ausführlich über die Demonstrationen berichtet hatte, nur noch 80.000 statt der bis dahin 200.000 Exemplare drucken lassen – die Druckerei schützte Papiermangel vor. Ab Freitag stoppte die Zeitung die Berichterstattung über die Protestbewegung. Gegen diese Entscheidung protestierende Journalisten, unter ihnen die Chefredaktion, wurden entlassen oder gingen freiwillig.

Die Sendungen des Belgrader Radiosenders B92 wurden zudem gestört. Die regimenahen Medien ignorieren den Protest. Auf dem Land wissen die Menschen kaum etwas über die Ziele der Opposition. Hinzu kommt, daß die Propaganda des Regimes die Oppositionsführer seit jeher in schlechtem Licht erscheinen ließ. „Vuk Drašković ist für den Krieg, weil er keine Kinder hat“, erklärte kürzlich eine Frau im nordserbischen Sabac. Eine andere meinte: „Mit der Opposition kommt nur neue Unsicherheit. Milošević verbürgt Ruhe und Frieden.“