Erst anraunzen, dann fliehen

■ Das Leben ist eine große, schwere Last: Elmar Goerden, ein ganz ruhiger unter den jüngeren Regisseuren, inszenierte Anton Tschechows „Ivanov“ in Stuttgart

Ivanov ist alles andere als eine dramatische Figur. Irgendwann ergab sich der einst aktive und begeisternde Mann einem Gemütszustand, den man melancholisch nennen könnte. Warum er weiterlebt, weiß er nicht mehr. Geplagt von Schuldgefühlen, probt er immer mal wieder den Gang auf dem schmalen Grat zum Freitod.

So jedenfalls spielt Bernhard Baier es in der Stuttgarter Inszenierung von Elmar Goerden, der in der letzten Saison am selben Ort Karl Philipp Moritz' „Blunt oder der Gast“ inszenierte und damit zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Ein unerwarteter Erfolg, Stuttgarts Schauspielchef Schirmer verpflichtete Goerden sofort fest an das Schauspiel und hat jetzt mit ihm, Hans-Ulrich Becker und Stephan Kimmig drei junge Regisseure, die bei aller Verschiedenheit eines eint: Sie inszenieren, indem sie Stücke ausloten, auf modische Mätzchen verzichten und die Schauspieler in den Mittelpunkt stellen.

Mittelpunkt in Tschechows „Ivanov“ ist natürlich Ivanov. Aber was für ein Mittelpunkt ist das? Was ihn zerfrißt und lebensuntauglich macht, weiß er nicht. Warum er in einer Minute einen Bediensteten anraunzt und in der nächsten am liebsten aus dem Haus fliehen möchte, in dem er mit seiner schwindsüchtigen Frau Anna Petrovna lebt, ist ihm ein Rätsel. Die Klatschmäuler um ihn herum meinen den Grund zu kennen: Ivanov hatte es auf die Mitgift seiner Frau aus reichem jüdischem Haus abgesehen. Als sie die Mitgift nicht bekam, ließ er sie fallen. Das ist allerdings nur Tratsch. Tschechow war als Dramatiker zu sehr Arzt, als daß er nicht von diesen unerklärlichen Seelenzuständen gewußt hätte, an die keine psychologische Erklärung heranreicht und die Tratsch noch weniger erklären kann.

Elmar Goerden läßt das Unerklärliche stehen und hat mit Bernhard Baier einen Ivanov auf der Bühne, der an sich hinabsieht, als betrachte er einen Fremden. Er droht zusammenzubrechen und weiß nur: „Ich habe mir etwas aufgebürdet und kann es nicht tragen.“ Wie aber auf solch einen Zustand reagieren? Bei Baier gibt es immer wieder Anwandlungen von Scham, sind kurze Versuche zu sehen, sich in nihilistische Anwandlungen zu retten. Aber dazu ist Ivanov nicht kaltblütig genug.

Tschechow hat sein erstes veröffentlichtes Stück mit Anspielungen gespickt, seine Hauptfigur ist aber weder ein „überflüssiger Hamlet“ noch ein Tartuffe, der sein bigottes Deckmäntelchen abgelegt hat. In Stuttgart hat er etwas Selbstquälerisches. Keine Chance also, daß die 20jährige Sascha noch was retten könnte. Ob man „Liebe“ dazu sagen soll, wie sie sich in den todbetrübten Mann verguckt hat? Kann man natürlich. Claudia Jahn spielt, daß die junge Frau mit wachem Geist, mitfühlender emotionaler Intelligenz, aber auch mit einem Dickschädel ausgestattet ist. Sie weiß, was sie tut und ist alles andere als ein schwärmendes Jungmädchen. Am Ende, wenn ihre Vorgängerin, die unglückliche Anna Petrovna, schon lange tot ist und alle Absetzbewegungen Ivanovs überstanden sind, scheint die Stuttgarter Sascha bereits etwas von dem süßen Gift der Melancholie Ivanovs getrunken zu haben. Die beiden werden heiraten, vielleicht wird es ihr aber wie ihm ergehen, und ihre überbordende Lebensenergie bekommt plötzlich etwas Selbstzerstörerisches.

Elmar Goerden ist vor allem mit diesen beiden Figuren eine feinfühlige Skizzierung gelungen. Im Falle von Ivanovs erster Frau dagegen griff er merkwürdigerweise zu einer groben Stilisierung. Christine Schönfeld spielt die Anna Petrovna als Frau mit rabenartigen Zügen, verkniffen und mit einem Zeigefinger, der stets bereit ist, als anklagender Dolch herauszufahren. Borkin, Ivanovs Gutsverwalter mit tausend Spleens im Kopf, wirkt als Lande-Entertainer überzogen – aber doch nicht so stark, daß er als Orginal bestehen könnte.

Gelungen dagegen die Szenen im Hause von Saschas Eltern, wenn sich bei den Lebedevs die Klatschonkels und -tanten der Region einfinden. Auffällig Juliane Koren als beleibte Witwe Babakina in unmöglichem Lindgrün und unter Oberaufsicht der herb- geizigen Hausherrin. Alle scheinen in den letzten harten russischen Wintern ihrer Spielchen etwas überdrüssig geworden zu sein.

Ivanovs Überdruß reicht tiefer. Bei Tschechow erschießt er sich. Elmar Goerden wählte eine andere Variante: Als der selbstgerechte Arzt Lvov den kurz aufblühenden Ivanov während der Hochzeit beleidigt, kippt der in Stuttgart schlichtweg um. Alle sehen überrascht hin, aber der Mann ist tatsächlich tot, ins Grab gedrückt von der schweren Last des Lebens. Jürgen Berger

Anton Tschechow: „Ivanov“. Regie: Elmar Goerden, Bühne: Katja Haß. Mit: Bernhard Baier, Kurt Hübner, Claudia Jahn, Dietmar Nieder u.a. Staatsschauspiel Stuttgart, Kleines Haus