Polizeiaktion gegen die „Kolonie der Würde“

Seit drei Jahrzehnten ist die deutsche „Colonia Dignidad“ in Chile tätig, seit Jahren gibt es Vorwürfe gegen ihren Anführer Paul Schäfer – jetzt versucht ein neuer Richter, den Haftbefehl gegen den Sektenführer auch durchzusetzen  ■ Von Claudia Ulferts

Es sollte der endgültige Handstreich gegen die „Colonia Dignidad“ werden. Um 7 Uhr morgens rückten am vergangenen Sonntag 150 Polizisten einer Spezialeinheit in drei chilenischen Städten zugleich aus, um Sektenführer Paul Schäfer aufzuspüren und festzunehmen. Der Vorwurf: Sexueller Mißbrauch an einem 12jährigen Jungen und zwei Kindesentführungen. „Ich habe berechtigte Hoffnung, Schäfer endlich vor Gericht zu kriegen“, sagte Jorge Norambuena, Richter von Parral, noch letzte Woche.

Begleitet von einem Fernsehteam, durchkämmten 80 Polizisten mit kugelsicheren Westen am frühen Morgen des ersten Advent das Anwesen der Kolonisten. Wütende Sektenmitglieder sowie deren Sympathisanten stellten sich ihnen in den Weg. Einer schnappte sich eine Kneifzange und versuchte damit einen Verdächtigen zu befreien, den die Polizei mit Handschellen an einen Lkw gekettet hatte. Von dem „Professor“, wie Schäfer sich selbst nennt, fehlte jede Spur. Der unscheinbare Mann mit dem Glasauge befand sich auch nicht in dem 100 Kilometer südlich von Parral gelegenen Restaurant der Colonia Dignidad, das von 30 Polizisten durchsucht wurde. Eine Durchsuchung mehrerer sekteneigener Häuser in Santiago durch einen dritten Polizeitrupp blieb ebenfalls erfolglos.

Der 76jährige Schäfer ist der Justiz schon oft entwischt. Seit 35 Jahren herrscht er über die Colonia Dignidad, zu deutsch „Kolonie der Würde“, ein Staat im Staat, 380 Kilometer südlich von Santiago in der Nähe der Kleinstadt Parral. 1961 war der in Deutschland wegen Kindesmißbrauchs von der Polizei gesuchte homosexuelle Paul Schäfer mit 260 Anhängern nach Südchile ausgewandert. Dort genoß die Colonia Dignidad als gemeinnütziger Verein 30 Jahre lang Zoll- und Steuerfreiheit. Ihre vermeintlich gemeinnützigen Einrichtungen, wie beispielsweise das Krankenhaus, wurden Jahrzehnte von der chilenischen Regierung bezuschußt. Derlei Vergünstigungen sowie die unbezahlte und exzessiv ausgebeutete Arbeitskraft ihrer Mitglieder ließen aus der kleinen Sekte im Laufe von drei Jahrzehnten eines der einflußreichsten Großunternehmen Chiles werden.

Heute soll die Colonia Güter im Wert von insgesamt 200 Millionen Dollar besitzen. Ihr Grundstück, 35 Kilometer südöstlich von Parral am Fuße der Anden gelegen, ist auf 15.000 Hektar angewachsen und reicht bis zur argentinischen Grenze. Auf dem von Mauern und Stacheldraht umgebenen Anwesen befinden sich ein eigener kleiner Flughafen, ein Kraftwerk, ein Lkw-Fuhrpark, eine Großbäckerei, ein Krankenhaus und eine Schule. Außerhalb ihres Grundstückes besitzt die Sekte Steinbrüche und Minen.

Die Kamera hält das geschwungene Eingangstor der Colonia Dignidad fest: „Benefactora Dignidad“, wohltätige Würde, steht darauf in Großbuchstaben. Im Hintergrund schneebedeckte Berge, von den Kolonisten in wehmütiger Heimaterinnerung „Dreitorspitze“ getauft. Bildwechsel: Die Kamera zeigt den Jünglingschor beim Liederabend. Dann sieht man zwei Mädchen mit blonden Zöpfen, die ein Rehkitz auf einer Wiese streicheln. Der Propagandafilm der Colonia Dignidad zeigt Menschen im Einklang mit sich und der Natur. Die Realität sieht anders aus.

Jaime Naranjo, Abgeordneter und Präsident der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer: „Niemand weiß, wie viele Menschen in der Kolonie leben. Weder Geburten noch Todesfälle sind jemals registriert worden. Paul Schäfer hat diese Menschen zu Sklaven gemacht. Männer und Frauen dürfen keine sexuellen Kontakte haben, selbst wenn sie verheiratet sind. Kinder wachsen getrennt von ihren Eltern auf. Schäfers Anhänger sprechen überhaupt kein Spanisch. Sie haben keine Papiere, kein Geld und überhaupt keine Kenntnisse der Region. Wie sollen sie da also herauskommen?“

Tatsächlich konnten in all den Jahren nur eine Handvoll Leute aus der Colonia Dignidad entkommen. 1985 floh das Ehepaar Lotti und Georg Packmor. Die Krankenschwester berichtete, daß Sektenmitglieder regelmäßig ihre Träume beichten. Darüber würden dann Seelenprotokolle angelegt. Pubertierende Jungen, so Lotti Packmor, müßten sich abends nackt in Rückenlage in einem Krankenhaussaal auf die Betten legen: „Bewegte sich in sexueller Hinsicht was, wurde das Kind herausgenommen und mit einem elektrischen Viehtreiber bearbeitet. Auch die Hoden.“ Der jüngste Fluchtversuch stammt vom Februar dieses Jahres: Mit einem Lkw gelang es dem 59jährigen Karl Albrecht Stricker, bis nach San Carlos in der Provinz Chillan zu flüchten. Er suchte eine Polizeistation auf und gab an, mißhandelt und zu übermäßiger Arbeit gezwungen worden zu sein. Die Beamten, angeblich für den Fall nicht zuständig, übergaben ihn der Polizei in Parral. Dort widerrief er laut Angaben der Beamten alle seine Aussagen und wurde in die Colonia zurückgebracht.

Patricio Aylwin, Chiles Übergangspräsident nach dem Ende der Pinochet-Diktatur, war der erste, der ernsthafte Schritte gegen die Sekte unternahm. Im Februar 1991, kurz nach dem 30jährigen Bestehen der Colonia Dignidad, wurde ihr die Gemeinnützigkeit und damit auch die juristische Person aberkannt. Die Güter der Sekte hatte Paul Schäfer zu diesem Zeitpunkt längst auf private Gesellschaften übertragen. De facto besteht die Colonia Dignidad weiter.

Jaime Naranjo erklärt, warum die Sekte ihren Gegnern stets zuvorkam: „Die Colonia Dignidad verfügt über ein perfektes Netz an Informanten, die sie jederzeit über alles unterrichten. Außerdem hat sie beste Kontakte zu einflußreichen Kreisen.“ Ein Beispiel für solch eine Zusammenarbeit könnte die Durchsuchungsaktion im Mai 1988 gewesen sein. Die Colonia Dignidad hatte damals amnesty international sowie den Stern verklagt, weil diese über ein geheimes Folterlager für Dissidenten des Militräregimes auf dem Grundstück der Sekte berichtet hatten. Die Suche nach Beweismitteln wurde im Beisein der Richterin Lidia Villagrán durchgeführt. Jaime Naranjo: „Frau Villagrán wohnte während ihrer Amtszeit in Parral in einem Haus, das ihr die Colonia zur Verfügung gestellt hatte. Welche Freiheit hatte diese Richterin also noch, gegen die Sekte vorzugehen?“

Gut 100 Kilometer nördlich der Colonia Dignidad, am Stadtrand von Talca, hat die 60jährige Adriana Bórquez die einstige Schutthalde hinter ihrem Haus im Laufe der Jahre in einen Naturgarten mit Oliven-, Apfel- und Birnbäumen verwandelt. Auf ihre Gehstöcke gestützt, wässert sie morgens ihre Blumen, fühlt sich wohl. Das war nicht immer so: „Als ich vor zehn Jahren aus dem britischen Exil nach Chile zurückkam, hat es mir davor gegraut, der Colonia wieder so nahe zu sein.“

Adriana Bórquez wurde am 23. April 1975 aufgrund politischer Aktivitäten gegen das Pinochet- Regime in ihrem Haus in Talca verhaftet und mit anderen Gefangenen in die Colonia Dignidad gebracht, wo sie 24 Tage gefoltert wurde. Zu den Klängen von Tschaikowskys „Capricho Italiano“ wurde sie geschlagen und am ganzen Körper mit Elektroschocks gequält. Hunde, speziell auf sexuelle Aggressionen abgerichtet, wurden auf sie losgelassen: „In diesen Tagen fühlte ich, wie sie mich all meiner menschlichen Qualitäten beraubt hatten. Sie hatten mich auf einen Haufen Schmerzen, Schmutz und Unrat reduziert. Ich hatte Ekel vor meinem verfaulenden Körper.“

Von der Colonia Dignidad aus brachte man sie in die „Diskothek“, das DINA-Folterzentrum der Calle Londres in Santiago, das seinen Namen erhielt, weil dort die Musik immer so laut aufgedreht wurde, bis es die Schreie der Gefolterten übertönte. Unter der Bedingung, für die Geheimpolizei zu arbeiten, kam sie nach drei Monaten frei und konnte nach England ins Exil flüchten.

In dem Bericht der Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung, der 1991 unter Patricio Aylwin angefertigt wurde, um die Verbrechen des Militärregimes zu dokumentieren, wird die Zusammenarbeit zwischen der Colonia Dignidad und der DINA bestätigt. „Weitere Untersuchungen sind unumgänglich“, so der Bericht, „weil viele Aussagen darauf hindeuten, daß sich die Spuren von Verschwundenen in der Colonia Dignidad verlieren.“ Beim Lesen dieses Satzes wird Adriana Bórquez bitter: „Niemand hat sich je wirklich getraut, den Kampf gegen die Colonia Dignidad aufzunehmen. Es gibt keine Untersuchungen über ihre Rolle als Foltergehilfe unter Pinochet.“

Auch Jaime Naranjo ist skeptisch, was eine Aufarbeitung dieses Themas angeht. Die Forderung mancher, den Friedhof der Colonia Dignidad nach Leichen von Verschwundenen zu untersuchen, hält er für absurd: „Die Kolonisten hatten auf ihrem riesigen Grundstück tausend Möglichkeiten, Leichen so verschwinden lassen, daß nicht die geringste Spur übrigbleibt.“

Abseits der Plaza von Parral, in einem blau angemalten zweistöckigen Gebäude, von dem die Farbe bereits abblättert, hat Jorge Norambuena, seit einem Jahr Richter in Parral, seinen Amtssitz. „Ich mache meinen Beruf aus Überzeugung“, betont er und setzt hinzu: „Auch ein Paul Schäfer hat sich den Gesetzen unterzuordnen.“ Aber Norambuena bekommt von allen Seiten Druck. Einen Tag nach dem gescheiterten Versuch, den Kopf der Sekte festnehmen zu lassen, zitierte die konservative Zeitung El Mercurio Hernán Larran, Senator der rechten Partei für den Fortschritt Chiles. Dieser verurteilte die Polizeiaktion als „Jagd“, bei der es an nötigem Respekt gemangelt habe. Richter Norambuena zerrt an seiner Krawatte, Schweißperlen stehen auf seiner Stirn, aber er bleibt dabei: „Wenn man mir morgen sagt, daß ich gehen muß, dann gehe ich eben, aber ich tue es mit einem sauberen Gewissen.“