Tarnkappe am Tisch

■ D.F. Baileys Roman „Tödliche Ahnung“

Familienchroniken sind meist tragische Wälzer. Da sich familiensprachliche Gebärden aber nicht objektivieren lassen, nur im Leben selbst auftauchen, erweisen sie sich als unverträglich mit Strukturgesetzen der Kunst. Also bleibt dem Autor keine andere Wahl: Er muß eine realistische Aufschreibeform wählen. Dabei soll der Leser im Idealfall unter dem Schutz einer Tarnkappe mit am Abendbrottisch sitzen, intime Geschwister-Fehden ebenso wie den sorgenvollen Blick der Mutter über die Umtriebigkeiten der Heranwachsenden teilen.

Dreizehn Jahre umfaßt der Roman des Kanadiers D.F, Bailey Tödliche Ahnungen. Zwischen Elvis-Presley-Boom, Kuba-Krise und Apollo-Mondlandung ziehen die Spykes von Toronto nach New York. Mit der Distanz des allwissenden Betrachters nistet sich der Autor ins Familienleben ein. Das frostige Abkapseln der Spykes in seelische Schutzbunker läßt den Leser konzentriert dem unerschöpflichen Psychodrama Familie beiwohnen.

Beim Spielen gerät eine echte Waffe in die Hände der neunjährigen Rose. Sie schießt auf den Nachbarsjungen, und David, Roses Bruder, fotografiert das Sterben. Ein schleichendes Verrücktwerden der Familienmitglieder ist die Folge, das lähmend auf alle Ausbruchsversuche wirkt. Jedes Mitglied versucht auf seine Weise, mit dem Trauma der tödlichen Schüsse fertigzuwerden. David kompensiert seine sexuelle Scheu mit einem Leben durch die Kameralinse. Rose sieht bei Lichtspiegelungen die zwei Projektile im Raum schweben, und Jayne ist auf der Suche nach dem Puls des Lebens, zuerst bei Lederrockern, am Ende versucht sie's mit Missionsarbeit auf den Philippinen.

Bailey erzählt unsentimental, aber mit einfühlsamem Gespür für seelische Entwicklungsabläufe. Wer das luftige Fabulieren mag, stößt bei diesem handwerklichen Perfektionisten garantiert auf Granit. Der viel zu herkömmlichen Traumata-Bewältigungs-Logik steht eine stets charakterscharfe Einstellung auf das selbstquälerische Agieren im Familienknäuel gegenüber, und diese ist es auch, die das Buch vor dem sofortigen Vergessen nach dem Zuschlagen bewahrt. Stefan Pröhl

D.F. Bailey: „Tödliche Ahnungen“ Rasch und Röhring, 1996, 258 S.