■ Türkei: Die Gesellschaft zerfällt. Auch die Militärs und das Kapital verschwinden als homogene Machtfaktoren
: Bonapartismus am Bosporus

Das Szenario hätte einem Kriminalroman John Le Carrés entstammen können. Ein tödlicher Unfall, bei dem vier Menschen in einem schwarzen gepanzerten Mercedes 600 verunglücken: ein bezahlter Killer, ein prominenter Politiker, ein ranghoher Polizeichef und die einstige türkische Schönheitskönigin. Im Unfallauto: Kokain für den Eigenbedarf, Polizeiausweis, Waffenschein und Diplomatenpaß des Killers und ein Waffenarsenal inklusive der bei Attentaten unerläßlichen Schalldämpfer. Nur der Politiker, der zur Regierungspartei gehört, überlebt. Zuerst leidet er an Amnesie, dann droht er im Fernsehen, auszupacken, wenn man ihm zu nahe tritt. Mit Erfolg. Die Regierung steht zu ihm. Allen voran Außenministerin Tansu Çiller, die den seit 17 Jahren polizeilich gesuchten faschistischen Attentäter Abdullah Catli, der beim Unfall ums Leben kam, verteidigt: „Für uns ist jeder ehrenhaft, der für diese Nation, dieses Land und diesen Staat eine Kugel abfeuert.“

Die Berichte der türkischen Medien über den Verkehrsunfall nahe der westlichen Stadt Susurluk erwecken den Eindruck, daß das Land von Kriminellen regiert wird. Mordbefehle werden in Amtsstuben erteilt, Politiker und Polizisten mischen bei den Machtkämpfen im Drogenhandel und Glücksspiel mit. Banken, in denen Politiker im Aufsichtsrat hocken, waschen Gelder aus dem Heroingeschäft. Eine stinkende Kloake schwimmt weit sichtbar auf der Meeresoberfläche.

Das gemeinsame Geschäft von Politik, Mafia und Polizei ist in aller Munde. Der moralisch-sittliche Verfall der Gesellschaft live im Fernsehen: Gesuchte Mörder treten per Telefon in Sendungen auf, berichten über ihre „heldenhaften Verdienste für das Vaterland“ und drohen Politikern und Polizisten, auszupacken, falls ihre Unantastbarkeit nicht mehr garantiert werde. Längst sind nicht nur kritische Kurden und Journalisten auf den Todeslisten der Mörderbanden, sondern auch Konkurrenten im Heroinhandel, Generäle der Armee und sogar Industrielle. Die Ehefrau des Regimentskommandeurs Ridvan Özden, der angeblich bei einem PKK-Angriff ums Leben kam, behauptet, die Mörder seien in den eigenen Reihen zu suchen. Der Industrielle Sakip Sabanci bezweifelt, daß es die linksextreme Dev-Sol gewesen sein soll, die im schwer bewachten Hochhaus des Konzerns den Mord ausführte. Die Hintermänner des Mordes könnten bei Polizei und Geheimdienst zu finden sein. Die Großkapitalisten im mächtigen Arbeitgeberverband Tüsiad fürchten um ihr Leben.

Der Schlüssel zum Verständnis liegt in Kurdistan. Die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) hat in den letzten zwölf Jahren eine schlagfertige Guerillabewegung formiert, die der Staat nicht eindämmen konnte. Über zwanzigtausend Menschenleben hat der Krieg bislang gekostet. Um die Guerillabewegung „effizient“ zu bekämpfen, wurden der Gleichheitsgrundsatz des bürgerlichen Rechts und das staatliche Gewaltmonopol aufgehoben. Millionen kurdischer Zivilisten wurden aus ihrer Heimat vertrieben, um der Guerilla die logistische Unterstützung zu entziehen. Dies wäre ohne die Aufhebung einheitlicher Rechtsnormen nicht möglich gewesen. In Istanbul würden Staatsanwälte ermitteln, wenn Bewaffnete einen Wohnblock abbrennen, in Kurdistan dagegen wird nicht ermittelt.

Dahinter steckt die trügerische Hoffnung, man könne den politischen Konflikt eingrenzen und im Westen des Landes „Normalität“ wahren. Die Aufhebung des staatlichen Gewaltmonopols erfolgte durch die Bezahlung und Bewaffnung kurdischer Stämme, die dem Kampf gegen die PKK zusagten. Diese sogenannten „Dorfmilizionäre“ rauben, erpressen und morden und bilden einen Staat im Staate. Zu ihnen gesellen sich „Sondereinheiten“ und Todesschwadrone, die sich aus den faschistischen Grauen Wölfen rekrutieren. Der defizitäre Staatsetat reicht nicht aus, um so viel kriminelles Tun zu bezahlen. Deshalb haben sich die Banden alternativen Finanzierungsquellen wie dem Heroingeschäft zugewandt.

Die Türkei wird regiert wie Frankreich unter der kriminellen Dezemberbande des Louis Bonaparte. Wie einst Frankreichs Bonapartismus ist auch das Regime in der Türkei nur ein Übergangsregime. Selbst die Rede von der allmächtigen Armee ist falsch. Denn das unterstellt zumindest eine politisch einheitlich ausgerichtete Führung des Militärs. Doch in den vergangenen Jahren kamen immer wieder Generäle unter dubiosen Umständen ums Leben. Ist es die international verflochtene türkische Bourgeoisie, die die Staatsgeschäfte steuert? Der Kapitalismus kennt zwar keine rechtsstaatliche Legalität, sondern nur den sich verwertenden Wert. Doch was ist davon zu halten, wenn noch nicht einmal Leib und Leben der Kapitalisten sichergestellt sind? Wie ist das neue Pressegesetz der Regierung zu erklären, das die großen Mischkonzerne, die den Medienbereich monopolisieren, ökonomisch zerschlagen will? Nicht nur Gewerkschaftsführer, sondern auch Großunternehmer werden von der Politik behandelt wie der letzte Dreck. So beschimpft Tansu Çiller den Arbeitgeberverband Tüsiad als „Blutsauger“.

Die Zeiten, als der gewaltige Repressionsapparat des Staates noch in den Händen der Zentralregierung lag – so nach dem Militärputsch 1980 –, sind vorbei. Vor 1980 riefen die Unternehmer nach dem Militär und dem starken Staat. Um den maroden Staat am Leben zu erhalten, ergehen heute Aufträge an unzählige unkontrollierbare „Zulieferbetriebe“ – Killerkommandos der Grauen Wölfe, Waffendealer oder PKK-feindliche kurdische Stammesführer. Dem Auflösungsprozeß der Gesellschaft entlang neu entdeckter ethnisch-religiöser Bewegungsmotive sowie des immanenten Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit folgt die Auflösung des türkischen Staates und die Parzellierung der Macht durch kriminelle Banden, die Politiker kaufen.

Mittelfristig ist die Türkei auf dem Weg zum Bürgerkrieg, falls nicht ein Militärputsch mit der Ideologie vom „sauberen Staat“ die zentrale Verfügungsgewalt über den Repressionsapparat zurückerobert und vorübergehend über gesellschaftliche Widersprüche hinweg „Ruhe und Ordnung“ schafft. Freilich gibt es auch die radikale Alternative: umfassende Demokratisierung und ein neuer politisch-sozialer Konsens einschließlich einem Kompromiß mit den Kurden. Die Abrechnung mit der eigenen Geschichte, bürgerliche Rechtsnormen und öffentliche Prozesse gegen Kriminelle, die Staatsgeschäfte gesteuert haben, gehören dazu. Ömer Erzeren