„Herr Müller, Sie sind ein Verräter“

Manfred Müller, Bundestagsabgeordneter der PDS, fühlt sich in der Partei nicht mehr wohl. Er ist zum Außenseiter geworden, weil er die Mauerschützen-Urteile verteidigt. Jetzt denkt er an Austritt  ■ Aus Berlin Jens König

Manfred Müller ist ein Verräter. Er hat es schwarz auf weiß. In den vielen Briefen, die er in diesen Tagen erhält, schreiben ihm seine Wähler, warum die Schüsse an der Mauer notwendig waren. Sie belehren ihn, daß durch die Kugeln von DDR-Grenzsoldaten immerhin nur 200 Menschen ums Leben gekommen sind und daß es an der Grenze zwischen den USA und Mexiko nicht viel anders zugeht. Dieses Argument halten sie immer noch für schlagend; es stand früher im Neuen Deutschland. Und sie schreiben Manfred Müller, daß sie als seine Wähler von ihm enttäuscht sind, weil er die jüngsten Mauerschützen-Urteile des Bundesverfassungsgerichts verteidigt hat. „Sie sind ein Verräter“, heißt es in den Briefen.

„Ich und ein Verräter“, sagt Müller. „Was soll ich denn verraten haben?“

Es ist nicht so, daß Manfred Müller seine Wähler nicht versteht. Er weiß, die meisten von ihnen verteidigen ihre eigene Biographie. Gleichzeitig versteht er sie auch wieder nicht. „Die haben mich wegen meiner kritischen Haltung zur SED gewählt, jetzt müssen sie auch mit mir leben. Für mich war das DDR-Grenzregime unmenschlich.“

Manfred Müller ist einer aus Gysis sogenannter bunter Truppe. Der ehemalige West-Berliner Gewerkschaftsfunktionär ist im Oktober 1994 als Parteiloser auf PDS- Ticket in den Bundestag gewählt worden. In der Wahlnacht im Oktober 1994 haben ihn die PDS-Anhänger frenetisch bejubelt. Jetzt, zwei Jahre später, jubelt kaum noch einer. Die Beziehung hat sich abgekühlt.

Müller ist häufig nicht auf Parteilinie – nicht nur bei den Mauerschützen-Urteilen, sondern auch beim Bosnieneinsatz der Bundeswehr – und eckt damit an. Der PDS ist ihre Truppe zu bunt geworden. Es scheint fast so, als merkten erst jetzt einige, daß Müller die Mauer von der anderen Seite erlebt hat.

Und Manfred Müller merkt jetzt erst, daß es die PDS mit ihrer Vergangenheitsaufarbeitung nicht mehr so ernst meint wie noch vor sechs Jahren. Er erlebt, daß für viele PDS-Mitglieder das westdeutsche Schweinesystem an allem schuld ist. Einfache Leute haben ihr Haus an Westdeutsche verloren, Lehrern ist ihre Ausbildung nicht anerkannt, Alten ihre Rente gekürzt worden – da verteidigt man schnell die Grenzgeneräle, die von denselben Richtern verurteilt werden. „Solche Leute sind 1990 noch aus der PDS geflogen“, sagt Müller. „Heute wird Egon Krenz von der PDS-Basisorganisation in meinem eigenen Wahlkreis, in Pankow, eingeladen und gefeiert, weil er vor den Schranken der westdeutschen Rachejustiz steht.“

Manchmal hat man den Eindruck, die PDS-Führung denkt genauso. Was habe ich eigentlich mit solchen Leuten wie Krenz, Keßler oder Streletz zu schaffen?, fragt sich der Parteivorsitzende Lothar Bisky schon mal, aber nur in stillen Stunden. Und Wolfgang Gehrcke, sein Stellvertreter, fühlt sich „immer wieder in eine Solidaritätshaltung gegenüber irgendwelchen alten Generälen hineingezwungen“.

Doch die Erklärungen des Parteivorstandes lesen sich anders. Nicht, daß da die Mauer verteidigt und die Toten nicht bedauert würden. Aber hängen bleibt irgendwie immer nur ein Gedanke: „Siegerjustiz“. Bereits einen Tag nach dem Karlsruher Urteil Mitte November hat der Parteivorstand eine Ad-hoc-Gruppe „Keine Strafe ohne Gesetz“ gebildet. Über eine sofort eingerichtete Telefon-Hotline haben sich innerhalb weniger Tage über einhundert Betroffene gemeldet und sich vor allem nach juristischen Möglichkeiten erkundigt, wie sie sich gegen ihre Verurteilung wehren können. Die Ad-hoc-Gruppe erwägt, die verurteilten DDR-Grenzgeneräle bei ihrer Klage gegen Karlsruhe vor dem Europäischen Gerichtshof in Strasbourg zu unterstützen. Außerdem wird die Gruppe unter Leitung von Wolfgang Gehrcke – wahrscheinlich erzwungene Solidaritätshaltung – Anfang 1997 eine Denkschrift erarbeiten, in der gemeinsam mit Westjuristen die politischen und juristischen Aspekte des Karslruher Urteils zusammengefaßt werden sollen.

An dieser Denkschrift werden federführend Uwe-Jens Heuer, rechtspolitischer Sprecher der PDS-Bundestagsgruppe, und das Vorstandsmitglied Michael Schumann arbeiten. Damit dürfte der Tenor der Erklärung vorgegeben sein. Gerade Uwe-Jens Heuer hat sich mit einer rechtsdogmatischen Auslegung des DDR-Grenzregimes hervorgetan. Natürlich bedauert auch er „jeden einzelnen Todesfall“ – das klingt so, als seien ein paar Menschen beim Überqueren der Straße bei roter Ampel umgekommen –, um dann lang und breit zu erklären, daß jeder Staat das Recht habe, seine Grenzen zu schützen, wenn nötig auch mit Gewalt. Das könne rückwirkend nicht bestraft werden. Das Bundesverfassungsgericht erkläre die DDR- Bürger zu Bürgern zweiter Klasse.

Heuer repräsentiert damit exemplarisch das kollektivistische Denken in der PDS: Für ihn wie für viele andere steht die ganze DDR auf der Anklagebank, für sie gibt es keine individuelle Verantwortung. Sie wollen nicht akzeptieren, daß die Grenzverletzer auch die Normalität der DDR verletzt und ihren freien individuellen Willen gegen den Zwang des Kollektivs gestellt haben. Manfred Müller hat sich mit Uwe-Jens Heuer angelegt, und die Reaktionen in der PDS auf seine Kritik haben ihn schockiert. Mittlerweile fühlt er sich innerhalb der PDS isoliert.

„Ich will meinen Frust nicht länger runterschlucken“, sagt er. In der nächsten Woche will er sich entscheiden, ob er aus der Bundestagsgruppe der PDS austritt.