Ehrgeiz ohne Streß

Volkshochschule: Kostenlos und in einem Jahr zum Haupt- oder Realschulabschluß  ■ Von Christine Andersen

Für Mutlu Kozak ist es der zweite Anlauf. Vor fünf Jahren kam der inzwischen 19jährige aus der Türkei nach Hamburg, besuchte hier die Hauptschule und verließ sie ohne Abschluß. Auf seine Stellenbewerbungen erhielt er regelmäßig Absagen, nicht qualifiziert, hieß es. Diesmal ist es anders. Mit Beginn der Weihnachtsferien wird Mutlu Kozak sein Hauptschulabschlußzeugnis in den Händen halten. Und: „Einen Vorstellungstermin habe ich auch schon.“

In ruhiger Umgebung, inmitten von Villen und verwachsenen Gärten, liegt am Röbbek in Othmarschen ein Backsteinbau. Hinten heraus Rasenflächen, Gewächshäuser, eine Cafeteria mit Wintergarten-Flair. Im senfgelben Flur schaukelt BesucherInnen eine Puppe aus Pappmaché entgegen. Hier beherbergt die Hamburger Volkshochschule den Bereich Schulabschlüsse; ein Geschwisterprojekt läuft in St. Georg. Seit 1976 gibt es das Angebot, über den zweiten Bildungsweg den Hauptschulabschluß (HASA) nachzuholen, Anfang der Neunziger folgte der Realschulabschluß (RESA). Über zweieinhalbtausend TeilnehmerInnen haben in den vergangenen 20 Jahren die Kurse erfolgreich abgeschlossen.

Mit Ende des Jahres gehört Güler Görgi dazu. Sie floh vor fünf Jahren aus Kurdistan nach Deutschland. In ihrem Heimatdorf ging die Schule nur bis zur fünften Klasse, danach arbeitete sie als Schneiderin. In Hamburg besuchte die Kurdin Sprachkurse. „Auf dem Arbeitsamt sagte man mir, ohne Hauptschulabschluß könne ich keine Ausbildung beginnen“, erzählt die heute 26jährige. „Ich mußte irgendwie anfangen, damit ich weiterkomme.“ Ihrem Berufsziel Erzieherin ist Güler Görgi inzwischen ein ganzes Stück nähergekommen. „Wenn es möglich ist, möchte ich jetzt meinen Realschulabschluß machen.“

Ein Jahr lang haben Güler Görgi und Mutlu Kozak die Schule am Röbbek besucht, 30 Stunden Unterricht in der Woche, der Stundenplan ist voll: Natur- und Rechtskunde, Englisch, Politik, Mathematik, Deutsch, EDV, Hauswirtschaft, Sport ... „Die Fächer sind den Bedürfnissen von Erwachsenen angepaßt“, erklärt Kursleiterin Sonja Bzowy. Der „große pädagogische Freiraum“ erlaube den KursleiterInnen und SozialpädagogInnen, individuell auf die einzelnen SchülerInnen einzugehen, wenn nötig auch „konkrete Lebenshilfe“ zu geben. „Wir sind hier wie eine große Familie,“ beschreibt Sonja Bzowy die dorfschulähnliche Atmosphäre. In den Klassen lernen jeweils 15 SchülerInnen. Alle sind per „du“. Mutlu Kozak bestätigt: „Die Lehrer sind hier nicht so streng.“

In der VHS-Schule entscheiden die KursleiterInnen über die Vergabe des Abschlusses. „Wir versuchen Streß zu vermeiden, denn oft war das der Grund für schulisches Versagen“, beschreibt Bzowys Kollegin Christiane Haak die Philosophie der Schule. „Regelmäßige Teilnahme ist allerdings Voraussetzung für den Erfolg.“ Sieben Kurse gibt es zur Zeit. Sechs davon gehen über ein Jahr, ein HASA-Kurs läuft über sechs Monate, und für den RESA kommen die TeilnehmerInnen eineinhalb Jahre lang zum Unterricht.

Finanziert wird der Bereich Schulabschlüsse von der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung. Die Kurse selbst kosten nichts. Viele der TeilnehmerInnen leben von Sozialhilfe. „Wenn man sieht, mit wieviel Ehrgeiz die Schüler hier kämpfen“, so Sonja Bzowy, „tut es mir in der Seele weh, wenn sie anschließend doch wieder arbeitslos sind.“

Ihr ehemaliger Schützling Börries Brinkama hat es geschafft. Nachdem er vor eineinhalb Jahren seinen Realschulabschluß in der Tasche hatte, arbeitete er als Bühnendekorateur in Los Angeles. Seit seiner Rückkehr nach Deutschland macht der 23jährige eine Ausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker. Auch ohne Garantie auf einen Ausbildungsplatz steht für die VHS-TeilnehmerInnen fest, daß sich mit einem Schulabschluß ihre Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Es muß ja nicht gleich Hollywood sein...

Die Kurse beginnen jeweils nach den Weihnachts- und Sommerferien. Für den HASA ist das Mindestalter 17 Jahre, Grundkenntnisse in Deutsch und Mathematik sind erforderlich. Für den RESA müssen die TeilnehmerInnen mindestens 20 Jahre alt sein und über einen Hauptschulabschluß sowie Englischkenntnisse verfügen. Bewerbungen sind jederzeit möglich bei der VHS, Bereich Schulabschlüsse; Othmarschen: Röbbek 4a, 22607 Hamburg, 82 30 97, St. Georg: Koppel 98, 20009 Hamburg,24 88 25 46.