Ware der dritten Art

Der Künstler, der früher Prince hieß, sucht Unabhängigkeit von der Plattenindustrie. Mit Gott und dem neuen Album „Emancipation“ auf seiner Seite  ■ Von Thomas Groß

Wie genau die Welt sich malt im Hirn von Hieroglyphe, wie eine von mehreren Umschreibungen des gottgleich unnennbaren Artisten aus Minneapolis lautet, ist ähnlich numinos geworden wie seine Heiratspolitik. Es gab – um nur einige zu nennen – Cat, die Katzenfrau, mit der er auf der Bühne sexuelle Seifenopern zur Darstellung brachte; dann Wendy, Lisa und Sheila E., das funky Aufgebot an Gitarre und Schlagzeug, maßgeblich beteiligt an dem Megahit „Kiss“ und weiteren Studiozeugungen aus der Superstarphase der Achtziger. Mrs. Hieroglyphe und Kindsmutter aber wurde 1996 unter beträchtlicher Presseanteilnahme die 22jährige Mayte Garcia, eine von vielen Backgroundsängerinnen – und warum?

Nun, „es schien unausweichlich“, gestand Ex-Prince, der sich in seinem Paisley Park geheißenen Studioreich einfach „Sir“ nennen läßt, dem Reporter der New York Times. Es verhält sich nämlich so, daß ihr zweiter Name Jannelle ist, während sein Vater John L. hieß; ihrer Mutter Name wiederum war Nell, während er in einer anderen Welt einmal als Prince Rogers Nelson geboren wurde. „Nells Sohn!“ – so die Logik des Zeichenstammbaums – „Soll ich bei so viel Übereinstimmung wirklich noch nach Erklärungen suchen?“

Aber woher denn! Wenn man akzeptiert, daß Schicksal jetzt Hollywood heißt und insgeheim Scrabble mit uns spielt, hat alles schon seine Richtigkeit. Ein Wunder ist es dann allerdings nicht mehr, daß T.A.F.K.A.P. (= The Artist Formerly Known As Prince) transatlantisch wie „Tarnkappe“ in den Ohren von Journalisten klingt. Eine erlesene, wahrscheinlich geheimer Arithmetik folgende Zahl durfte anreisen zum Probehören des neuen Albums „Emancipation“, einer Triple-CD, und alle kamen sie zurück mit der gleichen sparsamen Kunde aus der magischen Kugel Paisley Park.

Wie wir bereits ahnten, ist Hieroglyphe leibhaftig eine eher kleine Person, die weite Gewänder bevorzugt, Plateausohlen trägt, ihr Reich leichten Schrittes, aber auch zeitökonomisch durchmißt; die sich (Gerüchten zum Trotz, das Baby sei behindert oder gar tot) auf die Niederkunft von Prinz oder Prinzessin II freut, zwei weiße Tauben namens Divinity und Majesty im Büro hält, Inspirationen direkt von GOTT bezieht, aber hinsichtlich der ästhetischen Auslegung des jüngsten Wurfs in Rätseln spricht.

Eine Stunde, soviel steht fest, beträgt die Laufzeit jeder der drei CDs, keine Sekunde länger; je zwölf Titel sind darauf enthalten, und das alles hat was mit der Trigonometrie ägyptischer Pyramiden zu tun, die T.A.F.K.A.P. in langen, nächtlichen Sitzungen in Sound übersetzt hat. Tja, Ägyptologen: Bitte, macht was draus!

Geknebelt von Kapitalistenschweinen

Kein Wunder, daß Zuflucht zu den härteren Facts genommen wurde und Musikartikel jetzt Wirtschaftsstory heißt. „Emancipation“ ist die Geschichte der Befreiung eines Superstars aus einem Vertrag über sechzig Millionen Dollar, der volle künstlerische Freiheit einräumte plus 25 Prozent Gewinnbeteiligung für den Prinzen plus einen Posten als Vizepräsident der heuernden Firma plus Übernahme der laufenden Kosten durch selbige – ein Musterexemplar von ausbeuterischem Knebelvertrag durch Kapitalistenschweine, nicht wahr. Bloß mit einem wollten die Anwälte von Warner Brothers nicht d'accord gehen: Daß Prince, der damals noch so hieß, den Biorhythmus des Marktes durcheinanderbrachte, indem er in schneller Folge mit Alben herauskam, statt in Ruhe Gewinne abzuschöpfen, bis der Produktzyklus von selbst auslief. So etwas, meinte die Firma, verstehe der Käufer nicht.

Prince aber kam seinen vertraglichen Verpflichtungen nach, indem er sich „Slave“ quer über die Backe schrieb, sein eigenes Warenzeichen sabotierte, den Warner-Brüdern Jam Sessions als fertige Alben andrehte und schließlich mit fliegenden Fahnen zu Capitol/EMI wechselte, wo man ihn empfing, als gelte es, die Beziehungen zum Iran nicht zu gefährden: „Wir sind begeistert und fühlen uns sehr geehrt“, wird EMI-Chef Charles Koppelman in einer Firmenbroschüre zitiert, „mit ,The Artist Formerly Known As Prince‘ einen Vertrag abschließen zu dürfen. Er ist ein Pionier, einer, der Risiken wagt, und ein Genie. Dies ist ein monumentaler Moment, der ewig dauern wird.“ „Freiheit ist etwas Schönes“, soll T.A.F.K.A.P. daraufhin geantwortet haben – muß man bei so viel Übereinstimmung wirklich noch nach Erklärungen suchen?

Clou an der Geschichte ist jedoch, daß EMI T.A.F.K.A.P. nicht einmal produzieren, sondern bloß verteilen darf. Sämtliches Material – vom Video über die CD bis hin zum Merchandising – entsteht auf Artist-eigene Kosten im Kunststaat Paisley Park für das Hauslabel NPG (New Power Generation), wo der Artist auch über die Veröffentlichungstermine entscheidet, bevor die Ware in die weltweiten Distributionsnetze der Major-Firma eingespeist wird. Es ist, „wie wenn ich einen Floristen anrufe, um meiner Frau ein paar Blumen bringen zu lassen“, sagte T.A.F.K.A.P. der New York Times, und das meint in freierer Übersetzung nicht nur, daß die Industrie ihn mal kann, es heißt auch: Der Künstler, den wir einmal als Prince kannten und auf dessen Karriere in den neunziger Jahren niemand so viel mehr gab, ist durch seinen Deal Super-Independentunternehmer und Super-Independentstar in einem geworden.

Angeblich war es das Beispiel Ani DiFrancos, einer eher unbekannten Singer/Songwriterin, die T.A.F.K.A.P. zu dieser Marktstrategie inspirierte, bei der er natürlich auch das volle Risiko trägt. Weil keine Firma DiFranco-Songs haben wollte, gründete sie notgedrungen ihr eigenes Label und verkaufte ihre CDs direkt oder über Mail-Order. Mit auf die Dauer erklecklichem Erfolg – aber gilt das auch für einen Superstar? Gewiß, über das Internet und seine New Power Generation, die T.A.F.K.A.P. online mit einem Fragebogen umwirbt, öffnen sich neue Vertriebswege, und die Welttour im kommenden Jahr wird die Verkäufe zusätzlich anheizen, aber ein Triple-Album in den Zeiten der Diversifizierung? Wo schon Doppelalben selten und riskant sind – und Superstars Dinosaurier? Wo Heute nicht weiß, was morgen ist?

Ein Vabanquespiel neuer Dimension ist das. Könnte es am Ende sein, daß T.A.F.K.A.P., der in seinem Kunststaat lebt wie Howard Hughes im Flugzeughangar, ein ganz klein wenig den Kontakt zur Realität verloren hat?

T.A.F.K.A.P. der guten Hoffnung

Es ist von Aufschluß für die Wetterähnlichkeit heutiger ökonomischer Prozesse, insbesondere im Tonträgerwesen, daß selbst die branchenpolitischen Fachmagazine sich mit Prognosen zurückhalten. T.A.F.K.A.P. sei auf dem „besten Weg zum Business-Mogul“, befindet Forbes und spekuliert auf die höhere Gewinnspanne durch Eigenproduktion; von „ramponiertem Image“ und verlorener Zugkraft orakelt die Musikwoche. Offenbar ist im Zeitalter Nick Leesons die Grenze zwischen warenförmiger Rationalität und Auflösung der Fakten in einer Ordnung dritter Art dermaßen fließend, daß immer schwerer zu entscheiden ist, wo unternehmerisches Risiko aufhört und ab wann Wahnsinn oder Gott die Strategie scrabbeln. Nicht ausgeschlossen, daß in diesem System dann auch die Grundlinien ägyptischer Pyramiden eine marktwirtschaftliche Rolle spielen.

Für „Emancipation“ jedenfalls hat T.A.F.K.A.P. den Herzschlag seines ungeborenen Babys als Glücksomen gesampelt und als Rhythmus-Pattern für das Stück „Sex In The Summer“ verwendet, was einem beim Hören schon irgendwie nahegeht – meine Güte! Zu wissen, es ist human! Es gibt verschmuste Klassikeradaptionen wie „Betcha By, Golly Wow“ (ursprünglich von den Stylistics) und „La La La Means I Love You“, ein Hit für die Delphonics, die souverän ins eigene Idiom übernommen wurden.

Überhaupt ist „Emancipation“ das princigste Album, seit der Artist nicht mehr so heißt: Konnte man ihm auf veröffentlichten Tagebüchern seiner Nächte wie dem nahezu unverkäuflichen Vorgänger „Chaos And Disorder“ beim allmählichen Verfertigen der Stücke während des Jammens zuhören, so hat T.A.F.K.A.P. sich hier darauf zurückbesonnen, was einmal das Verkaufsargument für sein Modell war: superfeuchtfilmbeschichtete Melodien mit viel Funk untenrum, aber antidualistisch und auch geschlechtlich offen verpowert. Diversifizierung heißt jetzt Auswahl, und nicht zu Unrecht verspricht die Homepage im Internet „3 hours of love, sex & liberty“, eine zweifellos schöne Sache. Von hinten gelesen, mit drei multipliziert und auf die symbolischen Kämpfe von heute bezogen, heißt das natürlich auch (frei nach Prince): You need another T.A.F.K.A.P.-Album like you need a hole in your head.

In seinem Versuch, das bröckelnde Reich zu einen, sogar an zukünftige Generationen weiterzugeben (kann es ein Zufall sein, daß alle Superstars der Achtziger – Madonna, Prince und Michael Jackson – gleichzeitig Kinder kriegen?), spielt Mr. T.A.F.K.A.P. mit einem esoterisch ausdefinierten Kapitalismus gute Hoffnung. Sollte die Sache schiefgehen, wird er allerdings auch nicht am Hungertuch nagen müssen. Mehr als 1.000 Songs lagern bereits fertig auf Band, das ist mehr, als die Beatles jemals hatten, und sollten bei exakt zwölf Stücken pro CD rein rechnerisch bis ins Jahr 2077 reichen – posthume Verwertung oder Ausgrabung natürlich nicht ausgeschlossen.

Wie wußte doch schon Paul McCartney, der den Beatles-Back- Katalog verwaltet: „Wenn du einen ägyptischen Topf findest, muß es auch nicht der beste sein. Es reicht, wenn du weißt, er kommt aus Ägypten.“

T.A.F.K.A.P.: „Emancipation“ (NPG/EMI)