Ein schöner Abend in Moll

■ Cassandra Wilson bot mit ihrer Band am Freitagabend im Pier 2 ein überzeugendes Gastspiel

Fast konnte es einem heimelig werden in dem potthäßlichen Veranstaltungsklotz Pier 2. Fast wäre es Cassandra Wilson und ihrer Band gelungen, in dem großen Betonkasten die intime Clubatmosphäre zu schaffen, die ihrer so raffiniert sparsamen und sehr schicken Stilmischung aus Jazz, Pop, Soul und Blues angemessen ist.

Die Dramaturgie des etwa anderthalb Stunden langen Auftritts, das gedämpfte Licht und die zugleich mondäne und natürliche Bühnenpräsenz der Sängerin gaben dem Konzert eine ganz eigene Atmosphäre, bis dann wieder der Soundtechniker an dem fast unlösbaren Problem scheiterte, die sehr leise und delikate Musik für die große Halle abzumischen. Da schmerzte ein Perkussions-Solo dann plötzlich in den Ohren, oder ein Verstärker summte dumpf mit der angeschlossenen Gitarre.

Mit zwei Gitarristen, einem Kontrabassisten und dem ohne Schlagstöcke spielenden Perkussionisten hatte die Sängerin das Konzert sehr weich und sparsam instrumentiert, und so verband alle Stücke die gleiche organische, warme Grundstimmung. Dieses ewige Moll des Abends wurde aber nie eintönig, und auch wenn Cassandra Wilson mit ihrer dunklen und eigenartig nasalen Altstimme nicht die Wandlungsfähigkeit und emotionale Tiefe einiger Kolleginnen wie etwa Dianne Reeves oder Holly Cole erreicht, belegte der Auftritt, warum sie zur Zeit wohl die einzige Jazzsängerin ist, der die Konzertveranstalter zutrauen, solche Hallen wie das Pier 2 zu füllen.

Vor ihrem triumphalen Karriereschritt in Richtung des schwarzen Mainstream gehörte sie zu der New Yorker Avantgarde-Szene und arbeitete mit dem M-Base Collective, Steve Coleman und Bob Belden's Manhattan Rhythm Club. Auch wenn sie jetzt scheinbar die Experimentierfreude und Abenteuerlust dieser Periode hinter sich gelassen hat, zeichnet ihre Musik von heute eine ähnliche Unbeschwertheit aus, spielerisch zwischen den Musikformen und Stilen zu wechseln. Welche Jazzinterpretin würde sich sonst mit der Musik der „Monkeys“ abgeben?

Cassandra Wilson interpretierte deren Hit „Last Train To Clarksville“ so gegen den Strich, daß aus dem harmlosen Schlager eine schräge Toncollage wurde. Die Ballade „I can't stand the rain“ reduzierte Wilson im Duo mit dem Bassisten Lonnie Plaxico radikal, und so gelang es ihr, auch mit dem Tausendmal-Gehörten zu überraschen. Statt technischer Kapriolen und angeberischer Stimmakrobatik konzentriert sich Cassandra Wilson mit ihrem intelligenten Songverständnis auf das Improvisieren:

Sie verfremdet und seziert die Standards, und dabei sind ihr Klangfarben wichtiger als Melodien. Viele Stücke wirkten eher wie Soundteppiche und kaum noch wie traditionelle Songs. So ähnlich konzipiert auch Joni Mitchell ihre neuere Musik. Hier scheint sich ein Bogen geschlossen zu haben, denn von ihr war Cassandra Wilson nach eigener Aussage in ihrer früheren „Folk-Periode“ sehr beeinflußt. Danach hatte sie sich ihre Vorbilder unter großen schwarzen Sängerinnen wie Betty Carter und Billie Holliday gesucht. Und dieser zollte sie auch mit einer ganz eigenen Interpretation ihres Songs „Strange Fruit“ zum Beginn des Konzertes Tribut. Bis auf den Bassisten Lonnie Plaxico, der auch auf ihrer letzten CD mitspielte, wurde Cassandra Wilson von jungen, noch weithin unbekannten Musikern begleitet. Und in diesem minimalistischen Setup hört man jeden Patzer überdeutlich. Um so erstaunlicher war es, wie sicher die Band zusammenspielte. Obwohl die Arrangements offensichtlich lange poliert worden waren, hatten die Musiker genügend Freiräume für Improvisationen. Besonders die beiden Gitarristen Anthony Petterson und Marvin Sewell brillierten dabei durch erstaunliche Vielseitigkeit, sei es auf der Slide-Gitarre, bei Blueslinien auf der E-Gitarre oder brasilianischem Flair auf den akustischen Gitarren.

Cassandra Wilson ist es gelungen, zugleich sehr gefällige und raffinierte Musik zu machen: Jazz fürs große Publikum und gleichzeitig für die kleine Zahl wirklicher Kenner. Wilfried Hippen