Draußen vor der Tür

■ Anwohnerinnen und Künstler schaffen Freiraum für bewußte Blicke auf die Hauptstraße in Schöneberg. Von der charakterlosen Autoschneise zum Wohnort

So wirkt der Magnetismus der Großstadt: Immer wenn du die Turmstraße entlang gehst, drängt's dich zur Arminius-Markthalle, wo du unbedingt die Stände abschreiten mußt. Und wenn in der Schönhauser Allee die Zeit nicht allzu knapp ist, zieht's dich zu Konopkes Imbiß, wo der Osten in den Curry- Würsten komprimiert ist.

Es gibt Straßen, die sich dem Gedächtnis als Farbe einprägen, vom lichten Ocker bis zum stumpfen Grau beispielsweise, es gibt Straßen, die nach Hopfen, Kaffee und Autolacken riechen, die einen munter oder müde machen, die man meidet oder liebt. Und dann gibt es die vielen, wo das Verhältnis unentschieden ist. Die Hauptstraße in Schöneberg etwa.

Ist sie Fluchtweg oder Flanierstrecke oder von beidem ein bißchen? So ähnlich haben beim alltäglichen Fensterblick die Anwohner und Architekten Caroline Behlen, Friederike Holländer und Thomas Joeken es sich gefragt, bevor sie mit einem Kunsthistoriker und zehn Künstlern und Landschaftsplanern im Schöneberg Museum Antworten ausstellten. „Die Hauptstraße“, das ist der an- und abschwellende Gesang des Autoverkehrs (Peer Quednau und g.Ess Zeitblohm), der den Schlaf und manchmal auch den Verstand raubt (Martin Schnur); das sind die Mieternamen an den Türen, die Sofia Galanou registrierte, und es sind die Mauervorsprünge, die kleinen dunklen Ecken, die Buchstaben der Inschriften, die Takis Kaldis aufnahm. Die beiden deuten an, was für alle AusstellerInnen gilt: Nicht ums Panorama geht es, sondern ums Detail.

Die Route zwischen dem Innsbrucker Platz und dem Kleist-Park ist das Forschungsfeld, und je nach Profession und Neigung wird es in Augenschein genommen: als Thema einer kulturgeschichtlichen Abhandlung (Roland Enke), als Terrain längst vergessener Reklame, deren Schichtungen Claus Nieländer einer Plakatwand entnahm und für den obduzierenden Blick in Kunstharz konservierte; oder als Aufgabe für Alltagsarchäologen, die, wie Heike Vogler, die Straße als Ort der kleinen Nachrichten, der Polizeimeldungen und Pressehinweise freilegen. All diese Arbeiten sind aus der Perspektive der FußgängerInnen entstanden, die um sich schauen.

Holländer zeigt mit ihren Daumenkinos dagegen die Begrenzungen des Blicks in der stereotypen Bewegung, so ähnlich, wie es Kevin Lynch in seiner Untersuchung über die Wahrnehmung beim Autofahren herausfand: „... mehr als die Hälfte der Objekte, die entlang der Straße sowohl vom Fahrer als auch vom Beifahrer gesehen werden, sind Frontalanblicke. Was an den Seiten geschieht, wird kaum registriert. Es ist, als ob beide Scheuklappen tragen ...“. Diese Verengung ist auch Motiv der gemalten Momentaufnahmen von Karen Holländer. Der Innsbrucker Platz, die Kreuzung Dominicus-/Hauptstraße, die Poller, die in die Restnatur des Mittelstreifens am Prälaten übergehen – das sind Orte und Dinge, die man nicht mehr rasch hinter sich läßt, denn sie werden hier als Beweismittel für die Unwirtlichkeit der Städte porträtiert.

Es ist kein Zufall, daß dort, wo die Hauptstraße sich in einem deutlich erkennbaren Dämmerzustand befindet, wo jene Restnatur sich dschungelhaft verdichtet hat, wo das Gebäude des Prälaten seit Jahren leersteht und das alte Schwimmbad immer mehr zur Ruine wird, daß sich auf diese Mitte das Interesse der Veränderer und Verschönerer konzentriert: Caroline Behlen erträumte sich die Kreuzung Dominicus-/ Hauptstraße als Filmkulisse, auf der ein Beiprogramm fürs nahe Odeon-Kino abläuft; Thomas Joeken entwarf an der Brandmauer des alten Schwimmbads einen Anbau als Wandelzentrum für die Besucher des nahen Lassen-Parks, und die Landschaftsplaner Kristin Hack, Volker Röhrs und Rita Mettler nahmen sich eines kleinen Dschungels an, den sie sich nicht mehr als Kaninchen-Eldorado, sondern als Volkspark-Enklave, von der aus man den vorbeirasenden Autofahrern zuwinken kann, wünschen. Erste Ansichten – die Hauptstraße bleibt jedoch im Blick. Weitere Ausstellungen sollen folgen. Andreas Seltzer

Schöneberg Museum, Hauptstraße 40/42, bis 20. Dezember, Di.–So. 14–19 Uhr