■ Nebensachen aus Hanoi
: An Englishman in Saigon

Gegen solche Journalisten kann selbst ein Ex-Police- Frontman nicht an: „Rocker Sting hits Ho Chi Minh City“ titelte kürzlich die englischsprachige vietnamesische Zeitung Vietnam News. Doch: Der Schaden, den der Betroffenheitsbassist Saigon 21 Jahre nach dem Abzug des letzten GI zufügte, war vergleichsweise gering. Ein paar Tausend VietnamesInnen waren finanziell in der Lage, sich den „ersten Auftritt eines westlichen Rockstars“ (Vietnam News) live anzutun. Den Rest der Bevölkerung versorgte das staatliche Fernsehen mit Konserven: Von „Roxanne“ bis zu „I hope the Russians love their children too“ dokumentierte VTV den traurigen Niedergang des Briten. Doch die Nation hörte mehrheitlich nicht hin.

„Sting“, kommentiert ein Musikkassettenverkäufer in den Straßen Hanois das politische Ereignis, „der ist doch viel zu aggressiv (sic!) für Vietnam.“ Dabei hat die vermeintlich westliche Popkultur im Reich der Nachlaßverwalter Hoch Chi Minhs längst Einzug gehalten – doch sie kommt aus dem Osten: „Karaoke“ verkünden Leuchtreklamen auch über den kleinsten Kneipen. Das, was da herausschallt, klingt beim ersten Hinhören scheußlich. Doch beim näheren Zuhören und -schauen erschließt sich eine sehr eigene (Sub-)kultur.

Wenn in dem südostasiatischen Staat zum Feierabend geläutet wird, greift das Volk zum Mikrofon. „Ich vermisse dich“, stöhnt ein Vierzigjähriger, während ein zwanzig Jahre jüngerer Vietnamese auf dem Bildschirm einer Reisbäuerin hinterherschmachtet. Die Videos erinnern an Bilder, die von deutschen Fernsehsendern nach Sendeschluß ausgestrahlt werden: Landschaft, Sonnenauf- und -untergänge. Wenn dem Regisseur gar nichts mehr einfällt, läßt er einen Wasserbüffel über den Bildschirm schleichen, dazwischen sinnlich guckende schöne junge Menschen.

Umgerechnet rund 50 Pfennig zahlt ein Karaokekünstler für einen Auftritt. Der Staat hält sich aus dem Geschäft weitgehend heraus, Gewinn machen vor allem die zahlreichen Raubkopierer von Videokassetten – das Bootleggewerbe blüht.

Am Wochenende kann der Singsang zum Familienereignis werden. „Ich singe meistens für meine Frau und meine dreijährige Tochter“, erklärt ein Feierabendkünstler. Die häufig höchstens 20 Personen fassenden Karaokeläden haben kaum jugendgefährden Charakter. Meist sitzen die Karaokekünstler einsam zusammen, teilen sich zu dritt ein Mikrofon. Gelegentlich gibt es dazu „Bia Hoi“ – dünnes Bier aus Plastikkanistern, das allenfalls den Trieb in Richtung Toilette steigert.

Daß sich Karaoke in Vietnam so großer Beliebtheit erfreut, hat nach Ansicht des Kassettenverkäufers vor allem zwei Gründe: „Jeder kann selbst Musik machen.“ Und: „Unsere Karaoke ist so sanft und melodiös wie traditionelle vietnamesische Musik.“ Westliche Popmusik gebe es zwar auch auf Karaokekassetten, zum Teil sogar mit vietnamesischen Texten. Doch die Nachfrage sei gering. Obwohl Hanoi vom Lärmpegel mit jeder Drittweltmetropole mithalten kann, lieben es die Vietnamesen abends eher ruhig. Karaokemusik kommt meist aus dem Billigsynthesizer, und das Tonspektrum gleicht etwa dem des deutschen Schlagers: Es kommt völlig ohne Bässe aus. Da kann „Rocker Sting“ leicht zum Blindgänger werden. Thomas Dreger