piwik no script img

■ VorschlagAckerbau und Agit-Pop: Michelle Shocked in Huxley's Cantina

Die Grenze verläuft schon lange nicht mehr zwischen Indie und Major, sondern zwischen guter und schlechter Musik. Undergroundige Combos bei Motor Music oder gar Sony wiederzufinden ist keine Überraschung, und in der Telefonschleife von Rough Trade laufen neuerdings statt Lisa Germano, Gary Floyd oder Long Fin Killie auch schon mal die Backstreet Boys. Aber worum ging es eigentlich genau in jener grauen Vorzeit? Wahrscheinlich darum, daß die bösen großen Major Companies ihre Künstler mit allen Mitteln unter Druck setzten, möglichst kommerziell erfolgreiche Musik zu machen. Daß so was heute noch passiert, verwundert, aber Michelle Shocked hatte genau dieses Pech. Als sie vor vier Jahren ihr inzwischen wieder aktuelles Album „Kind Hearted Woman“ einspielte, wurde es von ihrer damaligen Plattenfirma abgelehnt. Gleichzeitig entließ man sie nicht aus ihrem Vertrag, so daß sie die Platte selbst herausbringen mußte und die fünfzehntausend Exemplare nur auf Konzerten verkaufen konnte. Und das war beileibe nicht der erste Konflikt in ihrem Leben.

Vor dreiunddreißig Jahren in Austin, Texas geboren, wurde sie von ihren fundamentalistisch-christlichen Eltern als Jugendliche wegen „Aufmüpfigkeit“ in die Psychiatrie gesteckt. Die wilden Jahre danach verbrachte sie als angepunkte Hausbesetzerin in San Francisco und Amsterdam und als Hausbootbewohnerin an der Themse. Doch kaum hatte sie ernsthaft zur Gitarre gegriffen, schnitt irgendwer bei einem Festival mit einem Walkman ihre „Texas Campfire Tapes“ und das dazugehörige Grillengezirpe mit, woraufhin sie sich vor Etiketten nicht mehr retten konnte. Als Bob Dylans Nichte, Woody Guthries lange verlorene Tochter, die neue Joan Baez oder schlicht der weibliche Billy Bragg wurde sie eingeordnet. Aber Schubladen liegen ihr nicht. Der jenseits des Neo-Girliefolk-Hypes groß gewordene Songwriterin geht es um den Swing, und der kann fast überall drin sein. Traurige Geschichten über Ackerbau, Viehzucht und den Regen, der noch immer auf sich warten läßt, haben in ihrem Repertoire genausoviel Platz wie schlichte (und ergreifende) Liebeslieder oder Agit-Pop-Varianten wie „Graffiti Limbo“, die Ballade für einen von New Yorker U-Bahn-Cops ums Leben gebrachten Sprayer. So vielfältig wie ihre Themen sind auch die Stile, deren sie sich bedient. Keine Spielart der drei Disziplinen Country, Blues und Folk ist vor ihr sicher. Dabei geht es ihr in der Arbeit mir diesen Rohstoffen weder um ein denunziatorisches Vorführen prähistorischer Musikformen noch um eine Wiederherstellung ländlicher Idyllen, sondern um eine eigene Entdeckungsreise – das macht ihre Musik so sympathisch. Gunnar Lützow

Michelle Shocked, heute abend um 21 Uhr in Huxley's Cantina

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen