Rumsitzen macht keine Spuren

Die Armut in den ländlichen USA kennt viele Generationen. Und jede Generation kennt engagierte Leute, die sich selbst und den anderen helfen  ■ Aus Appalachia Reed Stillwater

Biegt man südlich von Prestenburg von der US460 auf die 979 ab, gelangt man nach Grethel, einem winzigen Ort im östlichen Kentucky. Für die 7 Meilen braucht man fast 20 Minuten. Die Straße ist so eng, daß zwei Fahrzeuge kaum aneinander vorbeikommen. Es geht wie auf einer Achterbahn durch dichte Wälder oberhalb des Mud Creek, der weit unten in einer Schlucht gurgelt. Man ahnt, was es bedeutet haben muß, hier zu leben, bevor diese Straße ausgebaut und befestigt wurde.

Eula Hall, längst über das Pensionierungsalter hinaus, ist „Director of Social Work & Outreach“ und zugleich Vorsitzende des Wasserbezirks, der Seniorenvereinigung und der Ortsgruppe ihrer Gewerkschaft. Sie nimmt ihr Büro in der Mud Creek Clinic voll ein, und das nicht nur wegen ihrer Statur. An der Wand hängen neben Diplomen, Auszeichnungen und Familienfotos eine Holzplakette mit der Aufschrift: „Größte Großmutter der Welt“. Eine der eingerahmten Spruchweisheiten lautet: „Spuren im Sand der Zeit macht man nicht im Sitzen.“ In ihrem zum Wartezimmer hin offenen Büro sitzen Patienten, Angestellte, Nachbarn, Leute mit Problemen. Eula hat eine sanfte, aber gebieterische Stimme. Sie berät, telefoniert, liest Briefe, spendet Trost – alles gleichzeitig. Sie redet alle mit „Honey“ oder „Baby“ an. Aber wenn sie von den alten Zeiten spricht, wird ihre Stimme leiser und bricht.

Jedes Rezept kostet zehn Dollar – viel zuviel

Sie hat soviel Elend gesehen hier am Mud Creek. Schlimm war es, daß die Leute weder Wasser noch Kanalisation hatten, am schlimmsten aber, daß kein Arzt hierherkam. Wie viele Brüche und Wunden hat sie gesehen, die nie richtig heilten, weil sie nicht fachgerecht versorgt wurden! Auch der Totengräber kam nicht. Ganz auf sich gestellt war eine Familie, wenn wieder ein Kind starb oder der Mann auf einer Bahre aus einer der Kohlengruben nach Hause getragen wurde. Noch heute verfolgt sie das unablässige Hämmern, mit dem die rohen Särge zusammengezimmert und in die durch Holzeinschlag und Bergbau instabil gewordenen Hänge gegraben wurden. So lange ist das alles nicht her.

„Das ist eine typische Patientin“, sagt Eula über eine gebeugte Frau, die sie mit einem anteilnehmenden „Honey“ verabschiedet hat. „Sie hat Fieber und braucht Medizin. Wer aber fährt sie nach Prestenburg? Es gibt hier jemanden, der das für 20 Dollar macht.“ Aber jeder Arztbesuch und jedes Rezept kostet 10 Dollar, was bei zwei, drei Rezepten leicht 50 Dollar ausmachen kann. Eula sammelt Geld – darin ist sie seit Jahrzehnten Meisterin – und zahlt es beim Apotheker ein. Wer sich ein Rezept nicht leisten kann, dem gibt sie einen Vordruck mit, der den Apotheker auffordert, ihr Konto bei ihm zu belasten. Die ärmlich gekleidete Alte sieht lethargisch und traurig aus. „Das ist eine gute Frau“, beeilt sich Eula hinzuzufügen, „eine gute Christin. Die meisten Leute versuchen das Geld zurückzuzahlen.“

Schon als Schülerin hat Eula Hall für Nachbarn Briefe geschrieben oder nachts an Krankenbetten gesessen. Heute füllt sie Anträge aus, begleitet Leute zu Anhörungen, telefoniert mit Behörden. Mit dem „Krieg gegen die Armut“ bekam sie erstmals Verbündete, erinnert sie sich. Es kamen die „Vistas“ (Volunteers in Service to America) ins Land, die Freiwilligen im Dienste Amerikas. „Das waren Universitätsstudenten mit viel Enthusiasmus und einem Auto. Zusammen sind sie über Land gefahren, haben Leute transportiert, vor allem aber ein Gesamtbild der Situation erstellt.“ Eula war so begeistert, daß sie selbst einen Kurs als Freiwillige in Atlanta machte. Sie hat Wasserproben zum Landwirtschaftsministerium gebracht und nachgewiesen, daß es vom Bergbau verseucht war. Vista hat vielen auf die Füße getreten, wurde umorganisiert, umbenannt, aufgelöst. Doch der Drive blieb. So entstand die „979 Aktionsgruppe“, benannt nach der ins Tal gebauten Straße. Aus dieser Initiative ging schließlich vor zehn Jahren die Mud Creek Clinic hervor. „Das war ein langer, dornenreicher Weg“, erklärt Eula, „und jetzt sind wir von Kürzungen betroffen, und der Direktor in Prestenburg streicht Stellen.“ Eula organisiert jetzt die Klinikmitarbeiter in der Gewerkschaft.

Ein Schrotthaufen ist nach Ray C. benannt: C.-Town

Auch C.-Town liegt in Appalachia. Der Ort ist auf keiner Karte eingetragen, er existiert nur in der Geographie der Ortsansässigen sowie der Hilfsorganisationen am Cumberland College in Williamsburg. Diese Anhäufung von Schrott und Ruinen hat ihren Namen nach der Familie von Ray C., die ein vergleichsweise großes Holzhaus und ein halbes Dutzend Wohnwagen in einem abgelegenen Seitental des Cumberland River bewohnt. Ray und Joana haben zwölf Kinder, die ihrerseits eine für Außenstehende unüberschaubare Zahl von Kindern und Kindeskindern haben. Das große Haus verdanken sie „Mountain Outreach“, einer dem College angeschlossenen Organisation, die jährlich für die Bedürftigsten baut. „Fünf Häuser können wir jeden Sommer mit Hilfe der Studenten und anderer Freiwilligenorganisationen errichten. Aber bis zu sechzig Anträge bekommen wir. Wir haben Leute aus Hühnerställen, verkommenen Wohnwagen und Dachpappenverschlägen befreit.“ Al Laird ist Leiter des „Mountain Outreach“-Programms. Er ist Pfarrer und Tischler, vor einiger Zeit kam er auf der Suche nach einer Pfarrei aus Vermont hierher. Er ist Organisator, Sozialarbeiter, Fundraiser, Baumeister, Hochschullehrer und Missionar. Er trägt langes, zum Pferdeschwanz gebundenes Haar, Flanellhemd und Arbeitshosen.

Während Ray nur ab und zu einen Satz hervorstößt, steht Joana abseits mit abgewandtem, teilnahmslosem Gesicht. Die Hunde kommen schwanzwedelnd, aber die Kleinkinder verbergen ihre Gesichter in den Schultern der Kinder, die sie tragen, die sich ihrerseits ängstlich verstecken. Die Jugendlichen grüßen nicht.

„Hier ist niemand mehr als fünf Jahre zur Schule gegangen“, erklärt Al. „Einer von Rays Söhnen hatte es zwar geschafft, eine Lehre als Mechaniker zu machen, im fernen Lexington einen Job zu finden und seine eigene Garage aufzumachen. Doch nach ein paar Jahren ist er zurückgekehrt, er hielt es ohne die Seinen nicht aus. Die starken Familienbande können auch eine Fessel sein.“

Auch Andrew K. ist ein typisches Produkt Appalachias. Er ist 57 und sieht aus wie 70. Er hat sich bei Mountain Outreach um ein Haus beworben. Die Studenten des Cumberland College, zu deren Studienprogramm vierzig Stunden „Community Services“ gehören, fahren zu ihm hinaus. Andrew K. war einer von Hunderttausenden, die in den fünfziger Jahren in die Auto- und Maschinenindustrie nach Cincinnati und Detroit gingen. Dreißig Jahre hat er bei Ford gearbeitet, bis ihn ein Unfall arbeitsunfähig machte. Jetzt lebt er mit seiner epileptischen Frau und zwei Enkelkindern von monatlich 805 Dollar Social Security und 407 Dollar ergänzender Sozialhilfe – wahrscheinlich leben sehr viel mehr als die vier angegebenen Personen hier. Das peinlich sauber gehaltene Haus besteht aus Preßspan-, das Dach aus Styroporplatten und Teerpappe. Andrew hat 5 Hektar Land, eine Kuh und ein paar Hühner. Seinen Einnahmen stehen monatliche Ausgaben von 20 Dollar Abzahlung fürs Auto, 50 Dollar für Strom, 35 Dollar für Benzin, 40 Dollar für Telefon und 216 Dollar für Medikamente und Arztbesuche gegenüber. Das Haus ist eng und im Winter schwer beheizbar. Es regnet durch. Die Studenten sind nicht überzeugt, sie haben schon Schlimmeres gesehen. In der Tat: Das Haus gegenüber sieht aus, als würde es demnächst zusammenfallen.

Armut sei in Appalachia ein derart komplexes Problem, daß kein Regierungsprogramm dagegen ankäme, erklären die Studenten auf der Rückfahrt nach Williamsburg. Nur lokale Initiativen könnten etwas ausrichten – und die Gnade Gottes.

Carmelita Stafford ist eine langhaarige, hagere und schöne 21jährige. Ihre Gesichtszüge verbinden böse Erfahrungen und eine verbissene Energie. Sie wurde als letztes von 14 Kindern in Nebraska geboren. Als ihre Eltern sich scheiden ließen, sollten die Kinder zu Pflegeeltern. Ihr Jüngstes aber stahl die Mutter, und sie floh mit ihrem neuen Freund Steve erst nach Arizona und dann in dessen alte Heimat Kentucky, wo der auf einer Pferdefarm in Lexington Arbeit fand. Der hohen Mieten wegen wohnte die Familie in einem Wohnwagen in den Bergen. Als zwei Kinder hinzukamen, fand Steve einen ausgebrannten Wohnwagen, den er als Anbau herrichtete. Damit wurde das Elternhaus größer, aber nicht freundlicher. Mißbrauch und Gewalt herrschten, Carmelita war erlöst, als sie mit 16 zu einer Pflegefamilie kam. Sie hat sich nie mit der Apathie der Menschen in den Appalachen abgefunden: „Ich hätte sie immerzu schütteln können.“ Wie Eula Hall war Carmelita von Kindheit an engagiert, arbeitete in Suppenküchen und bei Alphabetisierungskampagnen. Eine Lehrerin schlug ihr vor, sich um einen Studienplatz im Berea College zu bewerben.

Berea College wurde 1859 von radikalen Christen als College für Appalachia gegründet – radikaler Christ zu sein bedeutete, keine Autorität außer der Gottes anzuerkennen. Berea verschrieb sich schon damals der Gleichheit der Geschlechter und Rassen, was in Kentucky nicht gut aufgenommen wurde. Das College rekrutiert 80 Prozent seiner Studenten aus den ärmsten Familien und besten Schülern Appalachias, erhebt keine Studiengebühren, verlangt dafür von den Studenten Arbeitsleistungen und Community Service. Bill Clinton fand in diesem Modell das Vorbild für seine Americorps-Idee, jenes Programm, bei dem Jugendliche sich durch ein soziales Jahr ihren Studienplatz verdienen. Carmelita Stafford ist eine der ersten Americorps-Dienstleistenden. Für 1.700 Stunden Sozialdienst in zehn Monaten erhält sie 4.000 Dollar Ausbildungsbeihilfe. In Berea stellt sie die Verbindung zwischen Community Service und Lehrbetrieb her. „Wenn die Studenten Alphabetisierungskampagnen oder Wählerregistrierung durchführen, muß das Studienprogramm sie darauf vorbereiten.“ „Service Learning“ heißt das inzwischen auch andernorts kopierte pädagogische Konzept.

„Die Studenten hier sind meist ,maintenance-oriented‘, ich bin ,task-oriented‘.“ Die anderen erhalten sich selbst, sie will nach vorn. Was sie meint, zeigt ihr Gesicht eher als ihre Wortschöpfung. Diese ungeduldige Falte auf der Stirn, das energische Kinn. Carmelita will in die Politik. Sie hat noch immer das Bedürfnis, Leute zu schütteln.