Rückzug aus der Moderne

Immer mehr türkische Jugendliche tendieren zum Islam. Teenager konservativer als ihre Eltern? Diskussion über Studie des Soziologen Heitmeyer  ■ Von Julia Naumann

Der 18jährige Attila Yilmaz kennt Moscheen und Gebetsrituale nur aus dem türkischen Kabelfernsehen. Der Gymnasiast, der in Schöneberg zur Schule geht, findet alles, was mit dem Koran und Religion zusammenhängt, „öde“. Sein Freund Deniz Tipcu hat sich dagegen intensiver mit dem Islam auseinandergesetzt. Ihn faszinieren die „gesellschaftlichen Ziele“ dieser Religion – beispielsweise, daß die „Menschen freundlich zueinander sein sollen“.

Zum „Lebensinhalt“ will der 17jährige Deniz die Religion jedoch nicht machen. Dennoch hat er bemerkt, daß unter den türkischen Jugendlichen „Beten und sich zum Islam bekennen“ seit einiger Zeit „total in“ sei. Doch hält er diesen von dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer in die Diskussion gebrachten Trend nicht für ein wirkliches „gesellschaftliches Problem“, sondern eher für eine „Modeerscheinung“. Am Montag stellte Heitmeyer seine Studie „Über die religiöse und politische Orientierung von Jugendlichen türkischer Herkunft“ in Schöneberg zur Diskussion (siehe Kasten).

Der 28jährige Ozcan Mutlu macht sich dagegen mehr Sorgen über die zunehmende religiöse Orientierung. So gebe es mittlerweile „ein trauriges Nebeneinander von deutschen und türkischen Kids“ in den Kiezen. Vor zehn Jahren sei das anders gewesen, besonders in Kreuzberg. Schuld daran sei einerseits „die Rückbesinnung auf traditionelle Werte und Religion“ und die daraus folgende „Desintegration“ der Jugendlichen. Die Folge: „Die heutigen Jugendlichen sind viel konservativer als die Türken, die in den sechziger Jahren nach Deutschland kamen.“ Andererseits habe die „Mehrheitsgesellschaft“ verpaßt, genügend eigene Integrationsangebote bereitzustellen.

Zu wenige Deutsche lernten Türkisch. Der Sozialarbeiter Eberhard Schwartz hält deshalb „interkulturelle“ Jugendarbeit auch zukünftig für wichtig. Problematisch findet Schwartz, der in der „Kifrie- Jugend-Etage“ in Schöneberg arbeitet, den „Überlegenheitsanspruch“, der sich manchmal aus dem Interesse am Islam ableite. Ein gefährliches „Bindeglied“ für Jugendliche zu islamisch-fundamentalistischen Ausrichtungen seien dabei Organisationen wie „Milli Görüs“, deren parteipolitisches Pendant in der Türkei die regierende nationalistisch-islamistische Refah-Partei ist. Milli Görüs hat im vergangenen Jahr verstärkt „Jugendetagen“ eingerichtet. Nach der Studie von Wilhelm Heitmeyer fühlen sich immerhin 33 Prozent der befragten Jugendlichen von Milli Görüs „gut“ oder „teilweise“ vertreten.

Dieser potentielle „Überlegenheitsanspruch“ – beispielsweise rassistische und sexistische Äußerungen von türkischen Jugendlichen – müsse, so Schwartz' Forderung auch in der Sozial- und Jugendarbeit verstärkt diskutiert werden. Dieses Verhalten dürfe man nicht weiter tabuisieren.

Doch um die komplexe Situation der türkischen Jugendlichen wirklich zu analysieren und daraus Interaktionsmöglichkeiten zu entwickeln, braucht es laut Eminel Demirbüken eine differenziertere Sichtweise als die der bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisse von Heitmeyer. Die Schöneberger Ausländerbeauftragte kritisiert, es sei „zu wenig“, nur religiöse und politische Orientierungen zu untersuchen. Daß türkische und deutsche Jugendliche immer weniger Kontakte miteinander hätten, liege nicht primär an der Hinwendung zum Islam, sondern an der Ausgrenzung und am Rassismus durch die deutsche „Mehrheitsgesellschaft“.