Gemeinsames Bedauern nach mehr als fünfzig Jahren

Die deutsch-tschechische Erklärung ist perfekt. Naziverbrechen und Vertreibung nach dem Krieg werden bedauert, ein „Zukunftsfonds“ für gemeinsame Projekte wird eingerichtet. Formelkompromiß bei der Frage der Entschädigung für die Sudetendeutschen

Die Arbeit an der tschechisch-deutschen „Gemeinsamen Erklärung“ erwies sich als so steinig, daß kaum jemand mit einem brauchbaren Endprodukt rechnete. Der jetzt vorliegende Text läßt wichtige Fragen unbeantwortet, bemüht sich aber um eine ehrliche historische Sicht und um eine prägnante Fassung gemeinsamer politischer Aufgaben.

Die wichtigste offene Frage: Zu den Entschädigungsforderungen der Sudetendeutschen ist nur ein matter Kompromiß erzielt worden, der die tschechische Seite nicht zufriedenstellen kann. In abstrakter Weise wird konstatiert, daß die je andere Rechtsauffassung der tschechischen und deutschen Seite respektiert würden und daß die Beziehungen „nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belastet würden“. Soll das heißen, daß die Bundesrepublik die Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen zwar für völkerrechtswidrig hält, aber Schadenersatzforderungen an den tschechischen Staat künftig nicht geltend machen wird? Mit einem solchen Ergebnis könnte die tschechische Seite leben, denn nach allgemeiner Völkerrechtsregel werden Ansprüche von Bürgern eines Staates gegen einen anderen Staat nur auf zwischenstaatlichem Weg geltend gemacht. Falls der Staat die Ansprüche seiner Bürger gegenüber dem anderen Staat nicht vertritt, kann er „im Innenverhältnis“ von ihnen verklagt werden. Ob die Bundesregierung sich entsprechend verhalten wird, ist aus der „Gemeinsamen Erklärung“ nicht entnehmbar.

Die „Gemeinsame Erklärung“ legt richtigerweise fest, daß die Vertreibungen nach 1945 eine Vorgeschichte haben, zu deren wichtigsten Daten das Münchner Abkommen von 1938 und die Vertreibung tschechoslowakischer Staatsbürger aus den ans Deutsche Reich abgetretenen Gebieten gehören. Das wird die Sudetendeutsche Landsmannschaft nicht gerne hören, aber vor den Tatsachen kann auch sie nicht davonlaufen.

In der „Gemeinsamen Erklärung“ wird jetzt von der „Vertreibung und zwangsweisen Aussiedlung“ der Sudetendeutschen gesprochen. Im tschechischen Dokument steht für Vertreibung „vyhnańi“, ein sehr scharfer, dem deutschen Begriff nahestehender Ausdruck. Für die zwangsweise Aussiedlung steht „vysidleni“, was ebenfalls dem deutschen Begriff entspricht. Von dem beschönigenden „odsun“ gleich Abschub ist nicht mehr die Rede, ebenso wenig wie von „transfer“. Dieses Bemühen um die gerechte Charakterisierung dessen, was nach 1945 geschah, wird der tschechischen Regierung noch viel Ärger einbringen, auch wenn man „Vertreibung“ für die wilden Vertreibungen und „zwangsweise Aussiedlung“ für die Vertreibungen nach Abschluß des Potsdamer Abkommens liest.

Bedauert werden von tschechischer Seite auch die „Enteignungen und Ausbürgerungen“. Sie zeugten nach tschechischer Meinung vom „kollektiven Charakter der Schuldzuweisung“. Mit diesen Formulierungen distanziert sich die tschechische Regierung von den Benes-Dekreten und entschuldigt sich für sie.

Beide Seiten legen fest, daß „bei Anträgen auf Aufenthalt und Zuzug zum Arbeitsmarkt „... insbesondere verwandtschaftliche Beziehungen, familäre und weitere Bindungen zu berücksichtigen sind“. Für das „Heimatrecht“, das die Sudentendeutsche Landsmannschaft einfordert, mag das ein mageres Ergebnis sein. Aber unbegrenzter Zuzug bei Beibehaltung der deutschen Staatsbürgerschaft ist eine wichtige Konzession für alle Sudentendeutschen und deren Kinder, die sich in Tschechien aufhalten wollen (die tschechischen Emigranten in der BRD sind in der Regel längst deutsche Staatsbürger). Noch besser wäre die doppelte Staatsbürgerschaft, aber an der ist weder die tschechische noch die deutsche Seite interessiert.

Mit der „Gemeinsamen Erklärung“ wird ein „Zukunftsfonds“ eingerichtet, aus dem gemeinsame Projekte zu fördern sind. Unklar bleibt, ob die Entschädigung tschechischer KZ-Opfer und Zwangsarbeiter ausschließlich aus diesem Fonds erfolgen wird. Sollte das der Fall sein, wäre die Regelung ungenügend, denn die Förderung bliebe auf gemeinsame Projekte bezogen, schlösse also individuelle Entschädigungen aus. Christian Semler