Im Zweifel für die Exekution

■ Alles spricht dafür, daß Joseph O'Dell mit dem Mord, der ihm vorgeworfen wird, nichts zu tun hat. Nächste Woche soll er in Virginia hingerichtet werden

Geht alles nach Plan der Staatsanwaltschaft, so wird Joseph O'Dell am 18. Dezember im Todestrakt des Bundesstaates Virginia hingerichtet – obwohl sein einziges „Verbrechen“ mit größter Wahrscheinlichkeit darin bestand, in diesem Bundestaat geboren und geblieben zu sein. Ein paar „erschwerende“ Umstände kommen hinzu: Armut, psychische Störungen – und ein miserabler Rechtsbeistand in den ersten Etappen einer kafkaesken Odyssee durch die US-amerikanische Gerichtsbarkeit.

Joseph O'Dell, ein 55jähriger Weißer, wurde 1986 wegen Mordes und Vergewaltigung an Helen Schartner, einer 44jährigen Sekretärin in Virginia Beach zum Tode verurteilt. Der Fall schien klar – zumindest nach Darstellung der Staatsanwaltschaft: Blutspuren des Opfers an der Kleidung des Angeklagten; der Abdruck seines Autoreifens am Tatort; die Aussage eines Mitgefangenen aus der Untersuchungshaft, wonach O'Dell ihm die Tat gestanden habe.

Neun Jahre später bietet sich ein völlig anderes Bild: DNA-Tests haben inzwischen ergeben, daß das Blut definitiv nicht mit dem von Helen Schartner übereinstimmt; das Sperma, das in Schartners Anus und Vagina gefunden wurde, stammt nicht von O'Dell; die Reifenabdrücke waren „ähnlich“, aber nicht „identisch“; und der einzige Belastungszeuge hat seine Aussage im Oktober diesen Jahres in einer eidesstattlichen Erklärung zurückgezogen und erklärt, er habe O'Dell belastet, um für sich Strafmilderung in einer Anklage wegen versuchten Mordes herauszuhandeln.

Daß Joseph O'Dell trotzdem in einer Woche die Hinrichtung durch eine Giftinjektion droht, hat vor allem mit den Strafgesetzen in Virginia zu tun: Der Bundesstaat geht bei der Beschneidung vermeintlich „unbegründeter“ Einsprüche von Todestraktinsassen besonders radikal zur Sache: Neues Beweismaterial, das die Schuld eines Verurteilten in Zweifel zieht oder widerlegt, muß innerhalb von 21 Tagen nach der Verurteilung vorgelegt werden. Andernfalls ist kein Richter in Virginia mehr verpflichtet, es zur Kenntnis zu nehmen. Die DNA-Tests konnte Joseph O'Dell aber erst 1989, drei Jahre nach seinem Todesurteil, durchführen lassen. Ein Zeitungskolumnist, der sich mit seinem Fall befaßt hatte, übernahm die Unkosten.

Das Labor stellte fest, daß die Blutspuren an O'Dells Kleidung weder von Helen Schartner noch von ihm selbst stammen, was seine Aussage im Prozeß untermauert: Er hatte sich in der Tatnacht zwar in derselben Bar wie Helen Schartner aufgehalten, hatte diese jedoch eine halbe Stunde nach dem Opfer verlassen, war nach seiner Darstellung in die nächste Kneipe gewandert und dort in eine Prügelei mit zwei anderen Männern geraten.

Vor Virginias Richtern rannte Joseph O'Dell weiterhin gegen eine Mauer: Das Verfassungsgericht des Bundesstaates weigerte sich, das neue Beweismaterial zur Kenntnis zu nehmen. Auch die Hoffnung auf die Instanzen des Bundes, vor denen Verurteilte Verstöße gegen ihre verfassungsmäßigen Rechte geltend machen können, erwies sich als trügerisch.

Der Oberste Gerichtshof der USA weigerte sich, einen Habeas- corpus-Antrag auch nur anzuhören. Die Begründung: O'Dell's Anwälte hatten vor Virginias obersten Richtern einen formal falschen Einspruch eingelegt – und damit „aufgrund prozeduraler Fehler“ den Anspruch ihres Mandanten auf eine Habeas-corpus-Anhörung vor den Bundesgerichten verwirkt. Zumindest drei der neun US-Verfassungsrichter fühlten sich jedoch bemüßigt, in einem Anhang zu ihrer Entscheidung „ernsthafte Zweifel“ an der Rechtmäßigkeit des Todesurteils gegen Joseph O'Dell und dessen Schuld zu äußern.

Der Verurteilte – inzwischen fünf Jahre im Todestrakt – startete eine neue Runde durch den Instanzenweg. 1994 konnten seine Anwälte die Ergebnisse der DNA- Tests einem Bundesrichter des „US District Court“ vorlegen. Richter James Spencer hielt das neue Material für stichhaltig, vertrat aber die Ansicht, daß eine neue Beweisanhörung nicht zu rechtfertigen sei. Dafür wiege die Aussage des Gefängnisinsassen über O'Dells vermeintliches Geständnis zu schwer. Der Schuldspruch blieb bestehen. Allerdings hielt Spencer eine Überprüfung des Todesurteils für nötig: Die Geschworenen seien seinerzeit nicht über die Alternative informiert worden, den Angeklagten ohne Möglichkeit der Bewährung für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu schicken. Im September 1996 erklärte die nächst höhere Instanz das Todesurteil für rechtmäßig. Einen Monat später zog der ehemalige Belastungszeuge seine Aussage zurück. Womöglich zu spät.

Jetzt bleibt Joseph O'Dell nurmehr die Hoffnung auf ein mittleres Wunder: Einen – höchst unwahrscheinlichen – Hinrichtungsaufschub durch den Obersten Gerichtshof in letzter Minute oder die Begnadigung durch den republikanischen Gouverneur George Allen.

Die Karten stehen schlecht. George Allen gilt als überzeugter Befürworter der Todesstrafe – und sein Bundesstaat unter Rechtsexperten als Bermuda-Dreieck für rechtstaatliche Grundsätze. In einem Bericht des – damals noch mehrheitlich demokratischen – US-Repräsentantenhauses wurde Virginia 1993 als einziger Bundesstaat erwähnt, der trotz entlastenden Beweismaterials in mehreren Fällen bislang keinen einzigen Todestraktinsassen auf freien Fuß gesetzt hat.

Bestenfalls wird begnadigt und das Urteil in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. So geschehen vor wenigen Wochen im Fall des 40jährigen Joseph Patrick Payne, der drei Stunden vor seiner angesetzten Hinrichtung als „Gegenleistung“ schriftlich versichern mußte, keine Neuaufnahme seines Prozesses anzustrengen.

Schlimmstenfalls wird exekutiert wie im Fall des 33jährigen Roger Coleman, der 1992 trotz neuer Beweise für seine Unschuld hingerichtet wurde. Sämtliche Anträge auf eine neue Anhörung waren abgelehnt worden, weil seine Anwälte eine 30tägige Antragsfrist nicht eingehalten hatten. Nach einer Studie der Zeitung The Virginian Pilot sind seit den siebziger Jahren mindestes neun Menschen in Virginia im Todestrakt gelandet, weil „Staatsanwälte entlastendes Beweismaterial unterschlugen oder manipulierte Beweise zuließen, Zeugen logen oder ihre Aussagen vor Gericht veränderten.“ Virginia rangiere an dritter Stelle unter den Bundesstaaten mit den meisten Hinrichtungen, heißt es weiter, „weil die 21-Tage-Regel mit religiösem Eifer eingehalten wird – unter Ausschluß von Unschuldsbeweisen“.

Für O'Dell bleibt da nur eines: Der Appell an die Öffentlichkeit, der von seinen Anwälten und Unterstützern vor allem über das Internet erfolgt. Auf einer eigenen Website liefern sie juristische Details und grundsätzliche Argumente gegen die Todesstrafe. Oder sie liefern sich hitzige virtuelle Wortgefechte mit den beiden Staatsanwälten, die O'Dell vor zehn Jahren in den Todestrakt brachten – und inzwischen auch mit dem Vorwurf konfrontiert werden, 1986 die Ergebnisse der Blutproben gefälscht zu haben. Die Einladung von O'Dells Anwälten, den Fall vor Fernsehkameras neu zu verhandeln, lehnten sie ab. Was womöglich nichts daran ändert, daß sie am 18.Dezember die Oberhand behalten. Andrea Böhm

Wer mehr Informationen zu dem Fall haben möchte, begebe sich ins Internet. Joseph O'Dells World Wide Web Adresse lautet http:// www.gbiz.com/odell/