Chronik des Weiterlebens nach dem angekündigten Tod

Er hat getötet. Und behauptet nicht, Teil eines Getriebes gewesen zu sein. Wie Don Cabana zum Henker wurde und einen Unschuldigen umbrachte. Und wie aus dem Henker Don Cabana ein Aktivist gegen die Todesstrafe wurde  ■ Von Andrea
Böhm

Es ist ein fröhliches Bankett, wenn man bedenkt, daß der Tod auf der Einladung steht. Das Lachsfilet schmeckt hervorragend, Cocktails von der Hotelbar haben die Stimmung hörbar gelockert. Hin und wieder schleichen sich Gäste von den hinteren Tischen an die Bühne des Ballsaals im Washingtoner „Marriott“-Hotel heran, um schnell ein Foto von den Stars des Abends zu knipsen: Bianca Jagger, die seit ihrer Scheidung von „Rolling Stones“-Sänger Mick eine höchst effektive Symbiose von Showbiz und politischem Engagement hergestellt hat, parliert angeregt mit Doug Robinson, einem Rechtsanwalt und exzellentem Strafverteidiger. Küßchen hier, Küßchen da, Blitzlichter – dann ein kurzes Raunen im Saal: Die Kellner servieren das Erdbeersorbet. Hier und da fällt ein Tropfen auf das Programmheft dieses Abends, auf dessen Titelblatt Worte aus dem Talmud stehen: „Wer ein einziges Leben zerstört, ist schuldig, als hätte er die ganze Welt zerstört; wer ein einziges Leben gerettet hat, verdient Anerkennung, als hätte er die ganze Welt gerettet.“

Bianca Jagger und Doug Robinson werden an diesem Abend von der „Nationalen Koalition zur Abschaffung der Todesstrafe“ dafür geehrt, das Leben von Guinivere Garcia und Federico Martinez Macias gerettet zu haben. Jagger hatte in einer großen Medienkampagne den Gouverneur des Bundesstaates Illinois dazu gebracht, Garcias Todesurteil kurz vor der Vollstreckung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umzuwandeln. Sie war wegen Mordes an ihrem Mann, der sie jahrelang mißhandelt hatte, verurteilt worden. Robinson hatte wenige Stunden vor der Exekution von Martinez Macias in Texas einen Aufschub erreicht, um dann in mühsamster, unbezahlter Kleinarbeit eine Neuaufnahme des Verfahrens anzustrengen, in dem der Texaner schließlich freigesprochen wurde.

Es wird geklatscht, hier und da eine Träne zerdrückt, bevor man sich wieder den Tischnachbarn zuwendet, um eigene Anekdoten von Demonstrationen, Gefängnisbesuchen, Gnadenanhörungen oder Prozessen auszutauschen. Ein Mennoniten-Ehepaar aus Pennsylvania; Kriminologiestudenten aus Florida; zwei Freundinnen und Mütter aus Delaware, deren einer Sohn ermordet wurde, und der andere im Todestrakt sitzt; Rabbiner, katholische Schwestern, methodistische Pfarrer, muslimische Sozialarbeiter. „Kennt ihr die Geschichte von dem Richter in Atlanta, der während des Verfahrens niemanden aus dem Saal auf die Toilette gehen ließ...“ Sie genießen, einen Ballsaal gefüllt zu haben und für ein paar Stunden zu vergessen, daß sie derzeit in ihrem Land einer ganz kleinen Minderheit angehören.

Er sitzt mittendrin an Tisch sieben, klein und rundlich, mit schütterem Haar, das gerade noch die Andeutung eines Scheitels hergibt, und etwas zu legerer Kleidung, die dem feierlichen Anlaß nicht ganz angemessen ist. Seine Aufmerksamkeit verteilt er möglichst gerecht zwischen Erdbeersorbet, Preiszeremonie und seinen Gesprächspartnern. Er fühlt sich sichtlich wohl in dieser Runde, ohne allerdings einen Ausdruck des Erstaunens ganz zu verbergen – wie ein blinder Passagier, der nach seiner Entdeckung überraschend freundlich aufgenommen worden ist.

Don Cabana hat, wenn man den Talmud wörtlich nimmt, zweimal eine Welt zerstört. Einmal am 20. Mai 1987, als er den Befehl gab, eine Zyanidkapsel in die Gaskammer des Parchman-Gefängnisses von Mississippi zu werfen, in der ein 26jähriger zum Tode Verurteilter namens Edward Earl Johnson festgeschnallt war; das zweite Mal, sechs Wochen später, am 7.Juli, als auf sein Kommando Connie Ray Evans exekutiert wurde.

Das gehörte damals zu seinem Job als Gefängnisdirektor des „Mississippi State Penitentiary“ – besser bekannt unter dem Namen „Parchman-Gefängnis“. Keine angenehme Aufgabe nach Auffassung seiner Vorgesetzten und vieler seiner Kollegen, aber eine, die getan werden muß. Nichts für Softies oder Menschen mit Skrupeln.

Weil aber Skrupel sich nicht bei allen Menschen ohne weiteres wegrationalisieren oder wegsaufen lassen, hat Mississippi wie alle anderen Bundesstaaten, in denen die Todesstrafe existiert, seinen Strafvollzugsbediensteten ein kunstvolles Netz mit Schlupflöchern und Sicherungen gebaut: das Hinrichtungsprotokoll. Jedem Mitglied eines „Exekutionsteams“ wird eine kleine, eng umrissene Aufgabe zugeteilt. Jeder kann behaupten, nur ein Glied in einer Befehlskette zu sein, die mit dem Todesurteil von zwölf Geschworenen beginnt und mit der Unterzeichnung des Hinrichtungsbefehls durch den Gouverneur endet. Jeder kann behaupten, daß sofort ein anderer an seine Stelle gerückt wäre, hätte er sich geweigert, seinen kleinen Teil zu tun. Bei Cabana hat keiner dieser Ausflüchte funktioniert, weswegen jeder aufhorcht, wenn er seine Geschichte mit den Worten beginnt: „Ich bin verantwortlich für den Tod von Edward Earl Johnson und Connie Ray Evans...“

Don Cabana sah Connie Evans das erste Mal an einem Oktobertag 1984. Cabana war in bester Stimmung. Er hatte vor einer Woche seinen Posten als Direktor des „Mississippi State Penitentiary“ angetreten – kurz Parchman-Gefängnis genannt. Vor elf Jahren von seiner Stelle als Wärter fristlos entlassen, weil er in der Gefangenenzeitung den damaligen Leiter des Parchman-Gefängnisses kritisiert hatte, war er nun als Boß zurückgekehrt – verantwortlich für ein Gefängnis, das mit seinen 5.000 überwiegend schwarzen Insassen, seinen überwiegend weißen Wärtern und gigantischen Baumwoll- und Gemüsefeldern eher einer Fortsetzung des Plantagensystems als einem Gefängnis entsprach.

55 Insassen waren in einem eigenen Zellenblock – im Parchman- Jargon „Little Alcatraz“ genannt. Evans schlaksige Arme baumelten durch die Gitterstäbe seiner Zelle, als Cabana seine erste Runde durch den Todestrakt drehte. Evans fixierte den „Neuen“. „Wie wär's, wenn Sie uns zum Einstand ein Weihnachtspaket von unseren Familien erlauben? Aber ich wette, Sie kennen noch nicht mal meinen Namen.“ „Sie sind Connie Evans. Wissen Sie, wie ich heiße?“ „Sie heißen Direktor.“

Cabana kann bis heute nicht erklären, warum sich aus dieser ersten Begegnung in den folgenden Monaten und Jahren eine Art Freundschaft entwickelte. Ihn, den 39jährigen weißen Gefängnisdirektor, aufgewachsen in einem streng katholischen Arbeiterviertel in Boston, verband scheinbar nichts mit einem 25jährigen Schwarzen aus einem Kleinstadt- Slum in Mississippi, der einen Raubmord begangen hatte. Nichts außer jener achteckigen Stahlkugel in „Little Alcatraz“, der Gaskammer, in der in den achtziger Jahren in Mississippi Todesurteile vollstreckt wurden. Doch Evans saß bereits drei Jahre im Todestrakt und hatte noch einige gerichtliche Instanzen vor sich.

Cabana stattete „Little Alcatraz“ regelmäßige Besuche ab, und unterhielt sich mit Evans über Baseball und die Bibel, über Schuld und Sühne. „Es gibt nichts, was ich zu meiner Entschuldigung vorbringen könnte. Ich war nicht auf Drogen und nicht besoffen“, sagte Evans eines Tages. „Ich bin rein, hab' den Laden ausgeraubt und den Mann erschossen, als er auf den Knien um sein Leben gefleht hat. Weil ich Schiß hatte, er würde mich wiedererkennen. Die Schuld trage ich bis ans Ende meiner Tage.“

Die Mühlen der Justiz mahlten langsam – und Cabana verdrängte einfach, daß ihm eines Tages der Hinrichtungsbefehl für Evans auf den Schreibtisch flattern könnte. Nicht, daß er zu diesem Zeitpunkt ein Gegner der Todesstrafe gewesen wäre. Trotz seiner katholischen Erziehung hatte er das Gebot „Du sollst nicht töten“ einer Modifizierung unterzogen, die er heute als „bürokratischen Utopismus“ beschreibt. „Ich war damals der Überzeugung, daß die Todesstrafe schon ihre Berechtigung hat, wenn der Staat sie für notwendig hält.“ Und im Parchman-Gefängnis saßen damals einige, die nach Cabanas Auffassung die Todesstrafe „verdient“ hatten.

Jimmy Lee Gray zum Beispiel, der Kindermörder, der 1983, ein Jahr vor Cabanas Wiederkehr nach Parchman, hingerichtet worden war – das erste Todesurteil, das in Mississippi nach der Wiedereinführung der Todesstrafe durch den Obersten Gerichtshof 1976 vollstreckt wurde. Grays Exekution hatte Schlagzeilen gemacht, weil er sich noch acht Minuten nach Freisetzen des Gases in Krämpfen wand und mit dem Kopf mehrfach gegen eine Eisenstange hinter seinem Rücken schlug. Das war nicht das, was man sich in Mississippi unter einer „problemlosen“ und „humanen“ Hinrichtung vorgestellt hatte – und es hagelte Kritik gegen den damaligen Gefängnischef. Cabana nahm sich – sofern er überhaupt einen Gedanken an seine Rolle als Henker zuließ – fest vor, daß unter seiner Aufsicht solche „Pannen“ nicht passieren würden.

Die Nachricht wurde ihm ganz nonchalant bei einem Treffen mit dem Generalstaatsanwalt von Mississippi im April 1987 überbracht. Der Gefängisdirektor möge bitte alle notwendigen Schritte für eine Hinrichtung einleiten. Datum: 20.Mai. Name: Edward Earl Johnson. „Ich glaube, ich hab's im Griff, ich bin bereit“, erklärte Cabana am selben Abend einem Freund. „Wie um alles in der Welt“, entgegnete der verdattert, „macht man sich für so etwas bereit...“

Cabana schlief schlecht, träumte schlecht und suchte zunehmend das Gespräch mit seinem Gemeindepfarrer und sogar um eine Audienz beim Bischof nach. Zwei Wochen vor dem Hinrichtungstermin fühlte er sich keineswegs mehr „bereit“, sondern wütend auf den Rest der Welt. „Warum mußte es ausgerechnet mich treffen? In dem Land gibt's über 200 Millionen Menschen! Warum mußte ausgerechnet ich zu den paar Dutzend gehören, die – ganz im Einklang mit dem Gesetz – einen Menschen getötet haben?“

In seiner Zelle in „Little Alcatraz“ saß unterdessen Edward Earl Johnson, ein 27jähriger Schwarzer mit großen Brillengläsern und seiner obligatorischen Wollmütze, und fragte sich ebenfalls: „Warum ausgerechnet ich?“ Johnson war acht Jahre zuvor von einer mehrheitlich weißen Jury in Mississippi wegen Mordes an einem weißen Polizisten zum Tode verurteilt worden, der einer weißen Frau bei einem Überfall zu Hilfe gekommen war. Bei einer ersten Gegenüberstellung schloß die Frau Johnson als Täter ausdrücklich aus.

Doch einen Tag später holte der Sheriff den 18jährigen zu einem Lügendetektortest ab, der nach Johnsons Aussage so ablief: Er wurde in ein Waldgebiet gefahren und vor die Alternative gestellt, entweder ein Geständnis zu unterschreiben oder „auf der Flucht“ erschossen zu werden. Johnson unterschrieb und zog das Geständnis bei der ersten Gelegenheit zurück, doch inzwischen hatte die Frau ihre Täterbeschreibung dem jungen Schwarzen „angepaßt“. Eine Alibizeugin Johnsons wurde während des Prozesses von Polizisten abgefangen und mit den Worten weggeschickt, sich aus solchen Angelegenheiten herauszuhalten. Die Geschworenen verhängten den Schuldspruch und das Todesurteil.

Nach acht Jahren Haft in „Little Alcatraz“ drohte ihm nun die Hinrichtung. Draußen versuchte ein neuer Anwalt, in letzter Minute besagte Alibizeugin wieder aufzutreiben. Drinnen tat Cabana, was das Hinrichtungsprotokoll von ihm verlangte. Auswahl des Hinrichtungsteams. „Schwierig, denn man will ja niemanden zwingen. Andererseits will ich keine Leute dabei haben, die sich mit Begeisterung freiwillig melden.“

Ausgabe von Passierscheinen für den Todestrakt: Grüne für Vollzugsbedienstete, gelbe für Augenzeugen der Exekution. Eine simulierte Generalprobe in der Gaskammer, dann ein letzter Test an zwei Kaninchen. Cabana mied es, Johnson zu sehen – und er vermied es mit einem inneren Monolog, sich mit der Frage seiner Unschuld auseinanderzusetzen. Wenn-die Geschworenen-und-die-Berufungsgerichte-und-der-Gouverneur-entschiede n-haben-kann-er- doch-nicht-ganz-unschuldig-sein. Und überhaupt, was sollte er schon tun. Es kam zu einer ersten lautstarken Auseinandersetzung – mit Connie Evans, der sich Johnson angefreundet hatte. „Immer alles auf die anderen schieben, Direktor“, zischte der durch die Gitterstäbe. „Nie selbst die Verantwortung übernehmen.“

Evans war von Johnsons Unschuld fest überzeugt – ebenso der Gefängniskaplan, der Gefängnisarzt, zahlreiche Wärter im Todestrakt und der Psychologe. Sie alle äußerten dies freimütig vor den Mikrofonen eines BBC-Filmteams, das auf Johnsons Wunsch und mit Cabanas Erlaubnis die letzten 14 Tage vor der Exekution dokumentierte. Auch jenen Moment 24 Stunden vor der Exekution, in dem ein zunehmend verstörter Cabana dem Gefangenen mitteilt, er werde nun in eine Sonderzelle mit Dauerüberwachung verlegt – Vorsorge gegen einen möglichen Suizid. „Keine Sorge“, entgegnete Johnson. „Ich werde den Staat schon nicht um seinen Spaß bringen.“ Cabana bot ihm ein Beruhigungsmittel an. Johnson lehnte ab. „Vielleicht brauchen Sie ja was. Ich möchte einen klaren Kopf haben. Und ich möchte, daß Sie einen klaren Kopf haben, damit Sie genau wissen, was Sie tun. Ich möchte, daß Sie sich für immer an jedes Detail erinnern, denn ich bin unschuldig, Mister Cabana. Unschuldig.“

Am 20. Mai, sechs Minuten nach Mitternacht, würgte Don Cabana drei Worte hervor: „Let's do it.“ Das war das Kommando für einen eigens angeheuerten Henker, mit einem Hebel das Gas in der Kammer freizusetzen. Cabana hatte acht Minuten darauf gewartet, daß doch noch das Telefon im Hinrichtungsraum läuten und ein Aufschub verkündet würde. Laut Berichten der Augenzeugen soll Johnson aus der Gaskammer heraus gerufen haben: „Schluß jetzt. Da ruft keiner mehr an.“ Dann begann er, ein Gospellied zu singen.

Um 12.21 Uhr stellte der Arzt, der an Johnsons Unschuld glaubte, dessen Tod fest, und der Kaplan, der an seine Unschuld glaubte, murmelte ein Gebet. Aufgekratzte Journalisten notierten in der anschließenden Pressekonferenz eifrig die Zutaten der Henkersmahlzeit und Johnsons letzte Demonstration menschlicher Würde, die sie in ihren Berichten ganz automatisch in „fehlenden Widerstand“ des Gefangenen umkonstruieren würden. So vehement die Zeitungsleser die Todesstrafe auch befürworteten, sie würden eine gewisse Erleichterung ob der vermeintlichen „Kooperationsbereitschaft“ des Verurteilten verspüren.

In der Kammer ließen unterdessen Wärter das Gas abziehen, bevor sie mit Gasmasken in die Kammer stiegen, die Leiche auszogen, mit einem Gummischlauch abspülten und in einen Zinksarg hievten. Cabana kam gegen drei Uhr morgens nach Hause, ging unter die Dusche und begann wie besessen, seine Haut zu schrubben. Er füllte sich „durch und durch schmutzig“.

Eine Woche später fand der Anwalt jene Zeugin, die bis heute aussagt, zur Tatzeit mit Edward Earl Johnson in einer Billardhalle gewesen zu sein.

„Mindestens ein Prozent“, schätzt Cabana, wenn man ihn heute nach der Zahl unschuldig Verurteilter in den Todestrakten der USA fragt. Weit mehr, so glaubt er, wurden aufgrund dubioser Deals der Staatsanwaltschaft mit Komplizen, rassischer Diskriminierung und eklatant schlechtem Rechtsbeistand zum Tode verurteilt. „Ich habe in meiner ganzen Karriere im Strafvollzug keinen Verurteilten kennengelernt, der einen qualifizierten Anwalt an seiner Seite hatte.“ Das kann schnell zu einem tödlichen Ausgang für den Mandanten führen in einem Strafprozeßrecht, in dem Wahrheitsfindung meist durch Beweiserhebung ersetzt wird. Die Staatsanwaltschaft versucht, genügend belastendes Material für eine Verurteilung zusammenzutragen, die Verteidigung versucht, mit der Aufdeckung von Schwachpunkten jenen Zweifel zu säen, ohne den die Geschworenen nicht auf „nicht schuldig“ entscheiden können. Die Staatsanwaltschaft ist nicht verpflichtet, nach entlastendem Material zu suchen – und wenn sie es findet, teilt sie es häufig der Verteidigung nicht mit, die ihrerseits mit weit weniger Personal und Resourcen ausgestattet.

Das alles ist nicht neu. Es ist, sagt Cabana heute, schlimmer geworden. „Bislang galt – zumindest als Anspruch – daß lieber ein Mörder frei herumlaufen soll, als daß ein Unschuldiger hingerichtet wird. Heute hört man immer mehr Stimmen, die sagen: ,Dumm, wenn's passiert. Aber die Todesstrafe dient dem Schutz der Gesellschaft – und wenn's ein paar Unschuldige erwischt, ist das zu vertreten.' Eigentlich“, sinniert er, „ist das keine sehr gute Zeit, um sich auf die Seite der Gegner zu schlagen.“

Er wäre vielleicht nicht auf dieser Seite und beim Bankett mit Bianca Jagger gelandet, hätte der nächste Hinrichtungsbefehl – wenige Wochen nach der Exekution von Edward Earl Johnson – einen anderen als Connie Evans betroffen. Zu Johnson hatte Cabana Distanz gehalten. Aber Evans hatte der Direktor über die Jahre bei ihren Unterhaltungen durch die Gitterstäbe mehr anvertraut als den meisten seiner Kollegen. Zum Beispiel, daß er als zehntes Kind einer heroinabhängigen Prostiuierten in einem Bostoner Slum-Viertel geboren wurde. Daß er erst im Heim, dann bei Adoptiveltern aufwuchs. Daß seine Mutter Jahre im Gefängnis verbracht hatte. „Ihre Mutter war im Knast?“ fragte Evans ungläubig, der den Direktor inzwischen umgetauft hatte, „Mister C., wollen Sie mich hochnehmen?“ In stillen Stunden begann Cabana sich zu fragen, was ihn außer ein paar segensreichen Fügungen auf dieser Seite der Gitterstäbe hatte landen lassen.

Connie Ray Evans wurde am 7.Juli 1987 unter Don Cabanas Aufsicht exekutiert. Der Gefängnisdirektor hatte in den Tagen zuvor mehrfach den Gouverneur um Begnadigung gebeten. Wenn einer ein Musterbeispiel für Reue und Rehabilitation sei, argumentierte er mit der Unterstützung zahlreicher Wärter, dann Evans. Doch damit kam er gegen die Logik des Gouverneurs nicht an. Wer rehabilitierbar ist, wird nicht zum Tode verurteilt. Bill Allain hatte als ehemaliger Generalstaatsanwalt von Mississippi das Todesurteil gegen Evans in mehreren Instanzen verteidigt. Er dachte gar nicht daran, es als Gouverneur umzuwandeln.

Aber er bot Cabana an, sich am Hinrichtungstag auf Dienstreise schicken zu lassen. „Wenn Sie nicht wollen, lassen wir es eben jemand anderes machen.“ Cabana lehnte ab – mit einer Begründung, die bei einigen Todesstrafengegnern auf Unverständnis und Empörung, bei Evans' Mitgefangenen auf Verständnis stieß. „Ich wollte es keinem meiner Untergebenen aufbürden – und ich wollte Connie nicht im Stich lassen.“

Kurze Zeit später ließ er sich von seinem Posten in Parchman in ein Gefängnis ohne Todestrakt versetzen, um schließlich eine Stelle als Kriminologiedozent in der „University of Southern Mississippi“ anzutreten. Aber es dauerte nach Evans' Exekution noch vier Jahre, bis er zum Telefonhörer griff, und sich von der Auskunft die Nummer einer Organisation gegen die Todesstrafe heraussuchen ließ. Dort wollte man seiner Geschichte erst nicht glauben. Noch nie hatte einer, der Menschen exekutiert hatte, sich öffentlich von der Todesstrafe distanziert und seine Mitarbeit angeboten. Seitdem reist er von einer Veranstaltung zur anderen, hat ein Buch geschrieben, zahlreiche kalte Blicke und heimliche Sympathiebekundungen von ehemaligen Kollegen bekommen.

Er kämpft für jene Gruppe, die in der Debatte um die Todesstrafe seiner Ansicht nach völlig übersehen wird: die Strafvollzugsbediensteten. „Da heißt es eines Tages: ,Direktor, um Mitternacht exekutieren Sie den Insassen XY. Morgen erscheinen Sie dann wieder zum regulären Dienst.' Als ob eine Hinrichtung bei uns nicht einmal einen Windhauch verursachen würde. Ich sage Ihnen, sie löst ein Erdbeben aus.“

Über Connie Evans zu reden, ist für ihn ein Mittel, mit den psychischen Folgen dieses Erdbebens fertig zu werden. Doch neun Jahre nach der Exekution von Edward Johnson hat er immer noch nicht den Mut gefunden, öffentlich zu sagen, was er im Zwiegespräch unter Tränen zugibt: daß er Johnson für unschuldig hält. Der Gedanke allein erdrückt ihn schier, „und ich trage das bis in mein Grab.“ Genau wie es ihm der junge Schwarze am Tage seiner Hinrichtung prophezeit hatte.