Der Krieg findet nur draußen statt

Was Medien stets verschweigen: An Kreuzberger Schulen lebt man gewaltfrei. Ein Erfahrungsbericht  ■ Von Reiner Westfal

Als der Direktor einer Kreuzberger Gesamtschule kürzlich auf einer Konferenz ankündigte, daß ein bekannter Journalist, der unter anderem für Zeit und Spiegel arbeitet, einige Tage lang die Schule besuchen werde, um eine Reportage zu schreiben, erhob sich Unruhe unter der versammelten Lehrerschaft: Ob denn dieser Journalist überhaupt die besonderen Bedingungen zu berücksichtigen bereit sei, unter denen die Arbeit an einer Kreuzberger Gesamtschule stehe? Oder ob es ihm vielleicht nur um einen reißerischen Aufmacher gehe? Wie man sich gegen eine verständnislose, verzerrende oder böswillige Darstellung wehren könne? Auf jeden Fall, forderten einige, müsse ein solcher Artikel vor der Veröffentlichung der Konferenz oder einer Kommission zur Genehmigung vorgelegt werden.

Ob der Journalist angesichts dieser Stimmung sein Projekt weiterverfolgt, weiß ich nicht. Bisher ist er jedenfalls noch nicht aufgekreuzt. Die Abwehr des Kollegiums hat natürlich mit der unter Lehrern weitverbreiteten Scheu zu tun, sich auf die Finger sehen zu lassen; der nach außen hochgehaltene pädagogische Anspruch und die oft chaotische, deprimierende Wirklichkeit klaffen zu peinlich auseinander, und beim täglichen Klassen-Kampf möchte man lieber ohne Zeugen sein. Was wirklich im Unterricht abläuft, ist das bestgehütete Geheimnis unter Kollegen.

Zu dieser beruftstypischen Scheu gesellt sich hier der Verdacht, daß ein solcher Artikel nur ein weiteres Mal das in den Medien kultivierte Horrorszenario von Schule illustrieren will. Denn der Spiegel-Leser weiß ja, wie es an deutschen Schulen zugeht: Dort herrscht Krieg, statt des Pausenbrots steckt eine Waffe im Rucksack, Lehrer werden zusammengeschlagen, Mitschüler erpreßt, Einrichtungen demoliert usw. (schuld ist, wie allgemein bekannt, der gesellschaftliche Werteverfall, die Auflösung der Familie, der übermäßige Konsum von Fernsehen, Videos und Drogen). Und wenn das so ist, dann erst recht in Berlin und dort natürlich besonders in Kreuzberg und ganz besonders an einer Kreuzberger Gesamtschule, wo sich alle Probleme von A wie Ausländeranteil bis Z wie Zukunftslosigkeit zu einer explosiven Mischung zusammenballen.

Erstaunlicherweise ist es nicht so. Es geht in dieser Schule am Südstern mit ihren über 1.000 Schülern unterschiedlichster Herkunft relativ friedlich zu. Dabei sind die äußeren Bedingungen eher ungünstig. Das „Mutterhaus“, eine jener abschreckenden Lernfabriken der 70er Jahre, ist wegen Asbestverseuchung gesperrt und seit langem eine Baustelle. Nachdem die Schule jahrelang über den ganzen Bezirk aufgesplittert war, ist sie jetzt in Behelfsbauten auf dem Schulgelände untergebracht; alles ist provisorisch, nichts, womit man sich identifizieren könnte. Und dennoch: Es herrscht kein Krieg. Sicher, es ist laut und unruhig, der Umgangston ruppig; es gibt Rangeleien und auch mal eine Schlägerei. Aber es gibt keinen bewaffneten Kampf zwischen Banden, Cliquen oder Nationalitäten, es herrscht kein Klima der Bedrohung. Ja, es komme schon mal vor, daß jemand ein Messer mitbringe, sagt ein Schüler, aber das sei bloß Angeberei und nicht weiter ernst zu nehmen. Gewalt sei hier kein Problem.

Die Lehrerinnen und Lehrer äußern sich ähnlich. Nein, bedroht fühlen sie sich nicht, manche bezeichnen ihr Verhältnis zu den Schülern als geradezu herzlich, erzählen von den Tränen, die es bei den Abschiedsfeiern regelmäßig gibt, von den Kontakten, die weit über die Schulzeit hinaus andauern. Für sie kommt die Gefahr von außen, von den Dealern am Südstern, den Gangs im Kiez, dem gesamten Umfeld. Die Schule erscheint manchen geradezu als Insel des Friedens in einem Meer von Gewalt und Gefährdung, und sie würden das weitläufige, unübersichtliche Schulgelände am liebsten mit einer hohen Mauer umgeben, um Eindringlinge, „schulfremde Personen“, wie es im Jargon heißt, abzuwehren. Am besten noch Ausweiskontrolle am Schultor, wie sie ansatzweise bei Schulfesten praktiziert wird. Denn wenn es dort Ärger und Schlägereien gibt, dann meist durch „schulfremde Personen“, auf die solche Feste eine magische Anziehungskraft auszuüben scheinen. Darüber ist sich das Kollegium einig.

Aber es gibt keine Mauer, sondern nur einen Zaun mit vielen Schlupflöchern, und es gibt auch kein hermetisch schließendes Schultor, sondern mehrere offene Zugänge, und quer durch das Gelände führt überdies noch eine Straße, die von den Anwohnern gern als Abkürzungsweg benutzt wird. Wenn der Studienrat K. einmal wöchentlich am einen Ende dieser Schulstraße eine Stunde lang Aufsicht hat, so weiß er natürlich, daß seine Aufgabe ziemlich absurd ist; denn wer hier abgewiesen wird, braucht nur ein paar Schritte weiter bis zum nächsten Eingang oder bis zum nächsten Loch im Zaun zu gehen. Und trotzdem fühlt er sich (zu seiner eigenen Überraschung, denn er ist eigentlich ein ängstlicher Mensch) in dieser Situation plötzlich als Verteidiger des Eilands Schule, der die Feinde von außen abzuhalten hat. Und der gefährlichste Feind, dem seine besondere Aufmerksamkeit gilt, weist drei Merkmale auf: jung, männlich, türkisch. Die Hausfrau mit der Einkaufstasche läßt er ungefragt passieren. Aber die jungen Türken, die draußen auf dem Bürgersteig herumstehen, und besonders solche mit verhaßten Attributen wie Goldkettchen und Handy und dem angeberischen Auto, aus dem die Musik wummert, die belauert er aus dem Augenwinkel, und wenn einer von ihnen einzudringen versucht, angeblich um eine Cousine zu besuchen, verweist er ihn des Geländes, wobei sein Herz mächtig klopft. In der Tat kommt es da manchmal zu bedrohlichen Situationen, wenn sich die Angesprochenen in ihrer Ehre verletzt fühlen, und einmal hätte der Studienrat K. fast einen Faustschlag auf seine randlose Brille bekommen, wenn die Begleiter den Angreifer nicht zurückgehalten hätten. Als aufgeklärter Mensch registriert er natürlich, daß er dabei Stereotypen aufsitzt, und sie sind ihm peinlich.

Aber Gewalt ist, wie gesagt, derzeit nicht das Problem an dieser Schule. Das liegt woanders. Wenn man sich mit Lehrerinnen und Lehrern unterhält, fällt immer wieder das Wort „unbeschulbar“: Viele Schüler der neuen 7. Klassen seien einfach „unbeschulbar“; sie seien nicht auffällig aggressiv oder bösartig, das nicht; aber sie wollten nichts lernen, könnten keinen Augenblick stillsitzen, nähmen den Lehrer oder die Lehrerin nicht zur Kenntnis, hätten alles, was man ihnen erklärte, im nächsten Augenblick wieder vergessen, seien in ihrem Verhalten schlicht verwahrlost.

Das sei das Problem, so etwas habe es vor zehn Jahren noch nicht gegeben, und hier müsse man sich etwas einfallen lassen. Ein Lehrer erzählt mir, wie er mit seiner 7. Klasse schon jetzt eine Klassenfahrt im nächsten Jahr vorbereitet: wie er mit ihnen übt, S-Bahn zu fahren oder gemeinsam zu essen, wie er sie daran gewöhnt, sich an gemeinsam erarbeitete Regeln zu halten wie „Ich werde den anderen nicht provozieren“.