In Belgrad wird getrennt demonstriert: Studenten am Tage, ihre Eltern am Abend. Dennoch sind sie sich einig: Voraussetzung für den Anschluß an Europa ist der Sturz des Regimes und die Errichtung einer Demokratie Aus Belgrad Erich Rathfelder

Nach Europa geht's ohne Milošević

Auch nach über 20 Tagen ist die Begeisterung ungebrochen, von einer Ermüdung ist in Belgrad nichts zu spüren. Mit Kind und Kegel ziehen sie jeden Abend unbeirrt ihre Schleife durch die Belgrader Innenstadt, an die 50.000 Menschen sind es zumeist, sie skandieren Slogans und sind ausnahmslos wütend auf Slobodan Milošević. Sie scherzen und lachen, aber regen sich auch auf über die Übergriffe der Polizei, die den 20jährigen Dejan Bulatović nach der Demonstration vom Sonntag festgenommen und brutal zusammengeschlagen hat.

Sorgfältig geschminkte Damen tragen ungeniert ihre zum Teil kostbaren Pelzmäntel zur Schau. Auch das Outfit der meisten Herren weist auf die mittelständische Herkunft der Demonstrierenden hin. In der serbischen Hauptstadt sind jene in Bewegung geraten, die vor dem Krieg für jugoslawische Verhältnisse einen überdurchschnittlich hohen Lebensstandard hatten, Menschen, die durch die Wirtschaftskrise, die Mißwirtschaft und das Embargo an den Rand der Armut gedrückt worden sind.

Anders als in den Kriegsgebieten Bosniens und Kroatiens, wo die Gesellschaft durcheinandergewirbelt wurde, sind hier in Belgrad, wo ja kein einziger Schuß gefallen ist, die sozialen Beziehungen intakt geblieben. So ziehen ganze Freundeskreise los, Hausgemeinschaften gehen gemeinsam zur täglichen Demonstration.

Wann immer das Regime die Misere entschuldigt, indem es behauptet, durch das Wirtschaftsembargo sei Serbien gedemütigt worden, das Ausland hätte sich gegen die Serben verschworen, beantworten die Leute das nur mit Achselzucken. Präsident Milošević habe die Isolierung Serbiens zu verantworten, so die einhellige Meinung unter den Demonstranten. Er trage die Schuld dafür, daß die Serben von der übrigen Welt abgeschnitten wurden und nicht mehr wie früher umstandslos ins Ausland reisen könnten. Paria zu sein in Europa, ist für diese weltläufige Mittelschicht der einstigen Hauptstadt des alten Jugoslawiens unerträglich geworden. Deshalb werden auf den Demonstrationen Europa- Fahnen mitgeführt. Und Ausländer werden freundlich aufgenommen, was auf dem Höhepunkt des Krieges und der nationalistischen Welle 1991/92 auch in Belgrad keineswegs selbstverständlich war.

Der Sturz des Regimes und die Errichtung einer modernen Demokratie, wie sie von den Führern der Opposition, Vesna Pesić, Zoran Djindjić und Vuk Drašković gefordert werden, sind für die Demonstrierenden die Voraussetzung dafür, wieder den Anschluß an Europa zu erreichen. Neben den finanziellen Schwierigkeiten bedrückt diese Generation der 25- bis 50jährigen die Sorge, daß die derzeitige Situation ihren Kindern die Zukunftschancen rauben könnte. Serbien verliere Zeit, ist ihre Meinung, ehemals sozialistische Länder wie Ungarn und Tschechien hätten Serbien längst abgehängt.

Geschäftsleute brauchen die Kontakte zum Ausland, brauchen ein modernes Telefonsystem, Kommunikationslinien, freien Verkehr, Vereinfachungen der Zollbestimmungen. Die Bürokratie, die totalitären, die Menschen entmündigenden Herrschaftsformen sind für alle zu Fesseln geworden. „Ich möchte meine Meinung frei sagen können, ich will richtige Informationen und keine Propaganda. Wir brauchen eine tiefgreifende Wirtschaftsreform, um wieder Fuß zu fassen, um Serbien wieder stark zu machen“, sagt etwa ein Ingenieur, der mit seinem Freund, einem Architekten, und dessen Familie zur Demonstration gekommen ist.

Noch ist die Gruppe der Demonstranten relativ homogen. Denn die von Armut und Misere weitaus stärker betroffenen Arbeiter halten sich zurück. Die Staatsbetriebe sind am Ende. Löhne und Gehälter werden nicht mehr ausbezahlt. Und doch klammern sich „die meisten der Kollegen an die Fiktion eines sicheren Arbeitsplatzes im Sozialismus“. So jedenfalls erklärt ein Gewerkschafter in einem der wenigen bestreikten Betriebe der Stadt. Der Kommunismus titoistischer Prägung sei vor allem von den Arbeitern in Serbien unterstützt worden.

So bleiben die Begriffe Wirtschaftsreform und Privatisierung abstrakt und können jenen keine Hoffnung sein, die in den Werkshallen sitzend auf bessere Zeiten warten. Die Betriebe sind bankrott und brauchen dringend Kredite. Daß die „Integration Jugoslawiens in die internationalen Finanzinstitutionen“ wegen Milošević verzögert wird, führt hier bisher nicht dazu, sich den bürgerlichen Demonstranten anzuschließen. Die Arbeiter sind desorientiert und verunsichert.

Die Studenten dagegen sind aufmüpfig. Auch gegenüber der Opposition, denn sie sind seit dem 18. November getrennt marschiert. Sie fordern die Absetzung des Rektors, eine Hochschulreform und die Einhaltung legaler Prozeduren. Sie wollen allein demonstrieren, weil auch die Parteigänger der Sozialisten bei ihnen mitmachen, jedoch nicht auf die Demonstrationen der Opposition gehen können. Für eine Minderheit sind historische Erfahrungen wichtig, hatte doch die Oppositionsführung 1991 die Demonstrationen abgebrochen und die Studenten mit ihrem Protest alleingelassen. So füllen sie zur Mittagszeit die Straßen im Zentrum Belgrads. Viele von ihnen tauchen dann auch abends auf, wenn die Mütter und Väter auf der Straße sind, denn was die Ziele betrifft, sind sie sich ja im Grunde einig.

Und auch in den Unklarheiten. Menschenrechte fordere er, sagt ein Student. Auch für die Albaner im Kosovo? Er zögert. „Kosovo ist unser Land“, sagt er dann knapp. Und die „Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina muß mit Serbien vereinigt werden.“ Die nationalen Ziele werden bei den Demonstrationen von niemandem hinterfragt. Sie werden als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Niemand käme auf die Idee, ein Plakat mit der Forderung nach Menschenrechten für die Kosovo- Albaner mitzutragen. Die Nationalhymne wird bei jedem Meeting inbrünstig mitgesungen, aber auch die Lieder von populären Rockbands. Zwar sind die Tschetnikkämpfer, die sich mit ihren Dreiecksmützen kenntlich machen, bei den Demonstrationen eine Randerscheinung, aber sie werden toleriert.

Wie die meisten Demonstranten klammern auch die prominenten Protagonisten der Belgrader Opposition die Diskussion über das nationale Thema, über den Krieg und die Kriegsverbrechen aus. Die Menschenrechtsaktivistin Vesna Pesić ist in den vergangenen Jahren eine der wenigen in Belgrad gewesen, die sich gegen die Unterdrückung der Albaner im Kosovo aufgelehnt hat. Ihr Dokumentationszentrum in Belgrad ist Anlaufstelle für alle, die über die Verletzung von Menschenrechten zu klagen haben. Vuk Drašković dagegen, der vom radikalen Nationalisten zum angeblich aufrechten Demokraten wurde, spielt in seinen Reden weiterhin mit den nationalistischen Emotionen. Und versucht, sie gegen Slobodan Milošević zu wenden. Milošević, so seine Position, sei Schuld am Krieg und seinen Folgen. Kühler dagegen ist Zoran Djindjić, der ehemalige 68er Studentenaktivist und Vorsitzende der Demokratischen Partei. Für ihn ist die nationale Frage eine taktische. „Ich kenne die Vorurteile meiner Landsleute“, sagt er, ich kann aber nicht gegen diese Einstellungen angehen, ich kann nur versuchen, das Element der modernen Demokratie in diese Gesellschaft einzupflanzen. Als erstes muß unser gemeinsames Ziel erreicht werden: der Sturz des Regimes von Slobodan Milošević.“