Das Archiv in der Hautfalte

■ Berührender Herzkitzel und unsentimentales Porträt in einem: Stefan Schwieterts Dokumentarfilm A Tickle In The Heart

Der Prolog gehört der Musik. Für ungeübte Ohren ein Gemisch aus Jahrmarktsgedudel und Zirkusumzug, unterlegt mit einem stampfenden Schlagzeug und unterbrochen von unverhofften Quietschklängen, ganz so, als sei jemand versehentlich auf einen Hamster getreten. Und wenn der Gesang anhebt, um die Vorzüge eines Mädchens zu preisen oder ungebrochenes Fantum zur eigenen Musik zu bekennen, klingt das so tränenwarm, daß der Vorhang im Saal der jüdischen Gemeinde nicht als Schneuztuch reichen mag.

In pietätvollem Nahen rahmt die Kamera in Stefan Schwieterts Dokumentarfilm A Tickle In The Heart Max Epstein, den ältesten noch lebenden Klezmer-Klarinettisten, ein. Seine von schweren Tränensäcken gezeichneten Augen läßt sie zu einem topographischen Relief werden. Und man glaubt einfach, daß sich hinter jeder Hautfalte die komplette Geschichte der ehemaligen Hinterhof-Musik verbergen muß. Während sich der Pensionär die Stirn mit Kölnisch Wasser abtupft oder sein Instrument säubert, erinnert er sich, wie alles anfing.

Max Epstein wurde 1912 als Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren. Mit sechs Jahren begann er Geige zu spielen, später Klarinette. Sein Großvater, ein Rabbi, führte ihn in die Klezmer-Tradition ein, die damals als stümperhaftes Humptata verpönt war. Die Musik hatte reinen Gebrauchswert als Unterhaltung auf Gemeindefesten, bis sie zum wichtigen Archivar jüdischen Brauchtums und chassidischer Musikkultur aufstieg. „Hättest du mich vor 35 Jahren einen Klezmer genannt, hätte ich dir eine reingehauen“, faßt der 84jährige den musikalischen Wertewandel schnörkellos zusammen. In ihrer Blütezeit standen die Epstein Brothers viermal am Tag auf der Bühne, bis sie in den 50er Jahren nicht mehr gegen die aufkommende Popmusik anfiedeln konnten und bald als Hintergrundcombo anderer Stars wie Frank Sinatra und später der Bee Gees von der Bühnenrampe verschwanden.

Das Einspannen des Holzblättchens in den Klarinettenkopf, das Fliegenbinden vor dem Auftritt und die scheinbar wöchentliche Autopflege strukturieren die Dokumentation im stoisch ruhigen Rhythmus der brüderlichen Alltagsrituale. Die S/W-Einstellungen lassen Zeit, sich im Bild umzuschauen, als säße man bei den Porträtierten auf dem Gästesofa bei Keksen und Kaffee. Und wenn sie bei ihrer Reise nach Polen mit Kameras vor den Floridahemden vor den Überresten des Elternhauses innehalten und dann vor der versammelten polnischen Nachbarschaft eine Klezmer-Einlage geben, erzählt Schwietert ganz nebenbei von der historischen Spaltung der jüdischen Kultur und von dem fremden, amerikanischen Blick auf die eigene Herkunft.

Ein Moment, der die Dokumentation in die Nähe des Cinema Verité rückt und trotz aller Rührung gänzlich unsentimental klar macht, daß auch Max Epsteins Klarinette und uralte Lieder nicht alles Geschehende versöhnend umarmen können. Birgit Glombitza

Abaton