Armut in der Warenwelt

■ Das Oktoberfest als Surrogat für die Wirklichkeit: Christoph Marthaler inszeniert Kasimir und Karoline von Ödön von Horváth am Schauspielhaus

Wie die Figuren in Kasimir und Karoline empfinden viele Menschen heute. Ohne Arbeit, Geld oder Obdach leben sie, umgeben von Überfluß, inmitten einer trügerischen Warenwelt. Christoph Marthaler inszeniert Ödön von Horváths Volksstück am Deutschen Schauspielhaus und findet in der Dichtung aus der Zeit von Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik das seinen Theaterintentionen kongeniale Werk. Denn beim Lesen oder Ansehen übersetzt es sich im Kopf sofort in die Gegenwart. Anders als in Goethes Faust oder Shake-speares Sturm folgt Marthaler dem Personal des Stücks und seiner Textpartitur aus Sprechen, Stille und genau vorgeschriebenen Musiken.

Die Demaskierung des Bewußtseins betreibt Ödön von Horváth in seinen Dramen. „Ich habe nur zwei Dinge gegen die ich schreibe: die Dummheit und die Lüge. Und zwei, für die ich eintrete: die Vernunft und die Aufrichtigkeit.“ Die unglückliche Liebesgeschichte von Kasimir und Karoline ist dafür ein Paradebeispiel. Weil sie sich mit dem Lebensersatz begnügen müssen, flüchten beide in Ersatzwelten. Das bunte Oktoberfest wird zum Surrogat für das wirkliche Leben. Sie sehen den Zeppelin über ihren Köpfen hinwegfliegen: „Er sieht schön aus ... Aber wir fliegen ja nicht mit.“ Und statt sich ein Eis zu kaufen, muß der Blick auf die Reklame den Heißhunger stillen.

Die kleine Büroangestellte Karoline (Olivia Grigolli) folgt dem Kommerzienrat Rauch und ihrer Ambition, etwas Besseres zu werden. Sie wird enttäuscht. Der arbeitslose Chauffeur Kasimir (Josef Bierbichler) versucht sein Glück mit Erna (Bettina Engelhardt) und mit dem Merkl Franz (Ueli Jäggi) beim schnellen Autoklau. Er wird geschnappt. „In der Inszenierung geht es immer um das, was man sich vorstellt, was nicht wirklich ist“, sagt die Dramaturgin Stefanie Carp. „Es wird ein elendes Oktoberfest – himmeltraurig, wie immer bei Marthaler. Und musikalisch mit einer kleinen Blaskapelle.“

Dazu haben Marthaler und seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock eine Bildmetapher für die Erzählung der sehnsuchtsbitteren Ballade vom Arbeitslosen und seiner Braut gefunden: das Panorama. Statt der Reise um die Welt die exotische Kopie. Kasimir und Karoline ersetzen Achterbahnfahrt und Hippodrom-Besuch durch einen Blick auf die Bilder davon. Zweifacher Ersatz dient ihnen zum „rosigen Blick in die Zukunft“. Der direkte Schritt in die Zukunft schlägt, weil sie Ausgeschlossene sind, fehl. Wie die Obdachlosen vor den bunten Videoscreens auf den Bahnhöfen mit den schönen Dingen und Menschen. Thomas Rössl Premiere: Do, 19. Dezember, 19.30 Uhr, Schauspielhaus