„Wir sind regelrecht verarscht worden“

■ Vulkanesen zogen gestern stinksauer, verraten und verkauft vors Bremer Rathaus

Die Domglocken schlagen zwölf. Einige hundert Vulkanesen stehen dicht gedrängt in eisiger Kälte auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus. Die orangen Schutzhelme tief in die Gesichter gedrückt, bibbern sie in ölverschmierten Overalls um ihre Jobs. Den mannshohen Plastik-Weihnachtsmann, der im „Märchenkarussell“ seine Rute schwingt, würdigen sie keines Blickes. Ihre Augen sind fest auf die schwere Eisentür geheftet. Auf den Stufen zum Rathaus stehen fünf Polizisten. Die Arme fest vor dem Brustkorb verschränkt, lassen sie ihre wachen Blicke immer wieder über die Menge wandern. Die bange Sorge, daß die Menge ausrasten könnte, steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Im Gobelinzimmer verhandelt Jobst Wellensiek unterdessen mit Bürgermeister Henning Scherf (SPD) und dem Wirtschaftskabinett über die Bürgschaft von 42 Millionen Mark, mit denen der Bau des Containerschiffes 110 finanziert werden soll.

Die Domglocken verhallen – wie auf Kommando öffnet sich die schwere Eisentür. Jobst Wellensiek drängt an den Polizisten vorbei zu den Mikrophonen und entschuldigt sich: „Ich hatte einen Nerv eingeklemmt...“ Pfiffe. „Wir auch“, schreien die Arbeiter. Die Bürgschaft für 110 sei sicher, über 111 werde weiter verhandelt, fährt Wellensiek fort. Pfiffe. „110 und dann ist Feierabend“, schreit ein Arbeiter. „Buuuuuuuh“, gellt es Wellensiek entgegen. Und: „Verarsch dich selber“. „Wir sind noch nicht am Ende“, versucht Wellensiek die aufgebrachte Menge zu beruhigen. „Sollen wir sammeln gehen oder was?“ erwidert ein Vulkanese sarkastisch. „Der hat gut reden. Der hat doch hier ein paar Millionen Mark abgezockt. Wer hat denn vom Vulkan so gut gelebt“, ruft ein Vulkanese dazwischen.

Auch Manfred Muster, der IG-Metall-Bevollmächtigte, kann seine „lieben Kollegen“ nicht beruhigen: „Gebt euch nicht auf“, ruft er der Menge zu. „Seit Monaten werden wir hier schon verarscht.“ „Du hast gut reden.“ „Hör auf zu schwafeln“, brüllen die Arbeiter ihn nieder. „Gestern war ich pessimistisch, seit heute habe ich wieder Hoffnung“, versucht Muster gegen die Demonstranten anzuschreien. „Du versuchst uns Sand in die Augen zu streuen.“

Aschfahl ergreift Bürgermeister Scherf das Wort. „Liebe Kollegen und Kolleginnen...“ Pfiffe. Noch sei nicht alles verloren, versucht er die Arbeiter zu beschwören: Wellensiek führe weitere Gespräche – unter anderem mit der Lürssen-Werft und Hegemann, die sich für den Marine Schiffbau interessierten. „Wie lange wollt ihr denn noch verhandeln. Sagt doch endlich die Wahrheit“, gellt ihm als Antwort entgegen. Die Vorwürfe gegen den Konkursverwalter seien ungerecht, stellt sich Scherf vor Wellensiek. Schließlich versuche Wellensiek die nächste Lohnfortzahlung für die Vulkanesen zu sichern. „Für das Geld haben wir ja auch wohl gearbeitet“, schreit ein Arbeiter. „Wir wollen keinen Konkurs“ ruft jemand. „Wir wollen keinen Konkurs“, wiederholt Scherf. „Wir haben den Konkurs.“ Und: „Das ist jetzt der Konkurs im Konkurs.“ „Ich muß jetzt in die Bürgerschaft“, sagt Scherf kurz darauf und bahnt sich den Weg durch die Arbeiter über den Marktplatz.

Betriebsratsvorsitzender Hasso Kulla versucht seine Kollegen zu beschwichtigen: „Ich mache euch einen Vorschlag...“ „Wir wollen keine Vorschläge mehr von dir“, gellt es ihm entgegen. „Laßt uns morgen früh um Viertel nach Sieben eine Betriebsversammlung in der Kantine...“ „Buuuuuuuuuh“, gehen Kullas Worte im Gebrüll unter. „Idiot“, schreit ein Vulkanese. „Dann ist Feierabend. Dann trete ich zurück“, sind die letzten Worte Kullas, die das Pfeifkonzert übertönen. „Das hättest du schon lange tun sollen“, erwidert ein Vulkanese.

Die Ansprache ist beendet. Murrend machen sich die Vulkanesen auf den Weg zurück nach Vegesack. „Für so ein Gelaber haben wir nun so lange gewartet“, seufzt ein Schiffbauer. Wie ihm geht es vielen seiner Kollegen. „Wir sind von den Politikern regelrecht verarscht worden – und das schon die ganze Zeit“, schimpft Hannes Zielonka (53). Er ist seit 1958 als Meister beim Vulkan beschäftigt. Viel Hoffnung auf einen neuen Job hat er nicht. „Wenn ich wüßte, wie es weitergehen sollte, müßte ich Jesus sein“, zuckt er mit den Achseln. „Da vorne ist ein Kran, daran sollte sie alle aufhängen“, schimpft ein anderer Vulkanese.

„Wenn man alles zusammenrechnet, haben wir in der ganzen Zeit auf 10 bis 11.000 Mark verzichtet“, pflichtet ihm Reinhard Kück (38) bei. „Es kann einfach nicht angehen, daß Radio Bremen alles eher wußte als wir. Wir haben nur ein Schreiben bekommen, in dem mitgeteilt wurde, das 110 und 111 unter Charter sind. Danach haben wir gehört, daß die Werft vor dem Aus steht und dann kam das Dementi von der Geschäftsleitung. Wir sind regelrecht betrogen worden.“ Der Schiffbauer kennt das. Bevor er 1984 zum Vulkan wechselte, war er bei der AG Weser. Bis heute ist es ihm ein Rätsel, warum die Werft damals geschlossen werden mußte. „Koschnik hat sie dichtgemacht. Dabei war das eine moderne Werft“, schüttelt er den Kopf. „Ohne schwarzen Humor kann man das alles gar nicht mehr ertragen“, nickt sein Kollege Thorsten Quellhorst (32). Wie es weitergehen soll, wissen beide noch nicht. „Wir haben zuviel zum Sterben und zuwenig zum Leben“, zuckt Kück mit den Achseln. Er ist verheiratet und hat drei Kinder im Alter von 14, 13 und 5 Jahren. „Machen Sie Kindern mal klar, daß es nichts zu Weihnachten gibt.“

Nach der Demonstration machen einige Vulkanesen einen Abstecher ins Märchenkarussell, um sich aufzuwärmen. An der Kaffeebar gibt der Wirt ihnen spontan Rabatt. „Für Vulkanesen kostet der Kaffee nur zwei Mark statt 2,50“. Das Kinderkarussell dreht sich, und der Weihnachtsmann plärrt: „Wir brauchten mehr als einen Tag, um nach Bremen zu kommen.“

Kerstin Schneider