Technologie des Körpers

■ Kalligraphie im Raum: Richard Graguns Einstand an der Deutschen Oper

So könnte Ballett wieder Spaß machen, großen sogar. Die erste Premiere unter der neuen Ballettdirektion von Richard Cragun an der Deutschen Oper beginnt mit „Stamping Ground“ von Jiri Kylian, uraufgeführt 1983 beim Nederlands Dans Theater.

Kylian war damals von einer Australien-Reise zurückgekommen und schwer beeindruckt von den Tänzen der Aborigines. Doch „Stamping Ground“ wurde keine Ethnokopie, sondern eine spielerische Entdeckung eines im menschlichen Alltag verpaßten Reichtums an Formen des Seins. Schlangengleich rollen Wellen durch die Wirbelsäulen der Tänzerinnen, unendlich verlängerbar in eine imaginierte Weite. Mit breit abgewinkelten Armen und Beinen klappen die sechs Mitspieler ihre Körper auf, stellen jeden Quadratzentimeter Haut auf Empfang. Geschmeidig wie die Wildkatzen, die Glieder schlenkernd wie die Affen und boxend wie die Hasen durchqueren sie animalische Bewegungsformen, um sich schließlich weiter zu verfremden. In der Hocke titschen sie auf wie ein Ball, schwingen wie Glockenklöppel und werden zu Gliedern einer energiedurchlässigen Kette. Kylian mag von den Aborigines das Hineinbegeben in fremde Körper der belebten und unbelebten Welt gelernt haben, einem Naturmythos verfällt er deswegen nicht. Denn die tierischen Analogien sind nur Hilfsmittel des Transports. Sie bringen die Tänzer in neue Bereiche, in denen es mehr um Wahrnehmung mit allen Körperzellen als um Ausdruck geht. Und offensichtlich fühlen sich die sechs Tänzer der Deutschen Oper wohl an diesem Ort.

Ebenso wie Kylian und Cragun begann auch William Forsythe, heute Chef des Frankfurter Balletts, seine Karriere bei Cranko in Stuttgart. Zu einem Klassiker der Tanzmoderne wurde seine 1987 in Paris uraufgeführte Choreographie „In the Middle, Somewhat Elevated“, führte er doch die Sprache des Balletts als ein Vokabular vor, das sich vom inhaltlichen Ballast des 19. Jahrhunderts befreit, neu zusammensetzen ließ: Differenziert, kraftvoll und energiegeladen scheinen Drehungen, Sprünge und Attitüden nun als eine in den Raum geschriebene Kalligraphie, deren komplexe Strukturen Ergebnis einer langen Tradition sind. Ballett erweist sich plötzlich als geschliffene Technologie des Körpers, von einem nur in ihm gespeicherten Wissen, das auf keiner anderen Ebene darstellbar ist. Tom Willems Musik zu „Somewhat Elevated“ verstärkt den Eindruck, in das Innere einer Maschine zu blicken. Bewegung ereignet sich plötzlich, überfällt die über die Bühne gehenden Tänzer wie ein elektrischer Impuls. Dieses atemlose Herausschleudern von komplizierten Fragmenten, für deren Zusammenhang es keine Erzählung mehr gibt, verlangt den Tänzern eine Konzentration ab wie im Leistungssport – bring in diesen 100 Metern alles zum Einsatz, was du in einem Jahr erarbeitet hast. Diese punktgenaue Präzision hat die Compagnie der Deutschen Oper noch nicht ganz erreicht, aber genügend Kraft und Virtuosität bringt sie dafür mit.

Die Zuversicht, sich einer spannenden Gegenwart des Tanzes anzunähern, wird allerdings durch Dietmar Seyfferts „Heimkehr“ auf eine Geduldsprobe gestellt. Auch dieses Stück will modern sein, modern um jeden Preis, und bedient sich zeitgenössischer Anleihen wie in einem Kramladen. Als gelte es, den Liedern aus des „Knaben Wunderhorn“ in Mahlers Vertonung Anschlußfähigkeit für eine Videoclip-Generation zu verleihen, treiben die Tänzer Mätzchen.

Offensichtlich wollte Seyffert, Professor für Choreographie an der Schauspielschule Ernst Busch, Heldenbilder alten Stils demontieren: In Springerstiefeln stolpert der Soldat in den Tod wie ein betrunkener Punk. Zuvor gibt es ein bißchen Husarenglück mit schnell battierten Sprüngen, ein wenig im Spagat und Schulterstand sublimierte Erotik, expressive Tragik, schließlich will man den Totentanz von Kurt Joos beerben, und am Ende einen x-beinigen Zusammenbruch, sozusagen vom Menschen pur, aller Formeln entkleidet. Viel Volk wuselt derweil auf der Bühne: Doch so wie das Scharren und Klappern des Bewegungskörpers rücksichtslos über den Gesang hinwegschrabbt, so wenig passen die zusammengesuchten Ausdrucksformen zusammen. Nie erreichte „Heimkehr“ die emotionale Stärke oder den Grad an Verstörung von Mahlers Musik. Katrin Bettina Müller

Aufführungen am 18.12., 31.1., 6.2., 9.2., 7.3. und 20.3.