Räumen für das Image der neuen Nation

Einst war Berlin die Hochburg der Besetzerszene. Seit Jahresbeginn läßt der Innensenator verstärkt Häuser räumen. Noch einmal flackert Widerstand auf  ■ Von Gereon Asmuth

Berlins Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) ist ein Mann mit Visionen. „Wir“, sagt er und meint damit die Stadt, in die er im Frühjahr zog, „wir können einer Nation, die sich selbst sucht, als Hauptstadt Halt geben.“ Berlin müsse Deutschland auch im Ausland repräsentieren.

Was natürlich nicht gehe, wenn „kleine radikale Randgruppen“ das Bild bestimmen. Schönbohm ist auch ein Mann der Tat. „Ich bin dafür, daß Hausbesetzungen zu Ende kommen“, sprach der Innensenator und ließ dieses Jahr schon zehn besetzte Häuser räumen. Zur Begründung verzichtet Schönbohm nicht einmal auf das Lieblingsargument konservativer Ordnungspolitik: „Rechtsfreie Räume können wir in der Stadt nicht dulden.“

Kaum ein Jahr im Amt, hat Schönbohm die „Chaoten“ wieder da, wo sie keiner haben wollte: zu Tausenden auf der Straße. In den vergangenen Wochen protestierten mehrfach über 3.000 Menschen gegen die Räumungen. Doch auch die Schlagworte der Hausbesetzer klingen wie eine Replik aus den Achtzigern: „Platz für alternative Lebensweisen, die in den vergangenen Jahren zum vitalen Bestandteil dieser Stadt gehörten, wird zerstört“, heißt es auf Flugblättern und in Szene-Infos.

Lange Jahre war es still um die letzten Berliner Besetzer. Selbst nach den ersten Räumungen im Frühjahr diesen Jahres blieb es ungewöhnlich ruhig. Erst als nach den letzten Räumungen Anfang November Vermummte im Ostberliner Bezirk Friedrichshain eine Straßenbahn stürmten und in Brand setzten, geriet die Besetzerszene wieder in die Schlagzeilen – und die Beteiligung an den jeder Räumung folgenden Demonstrationen stieg massiv an. „Dieser Terror geht uns alle an“, titelten die Boulevardblätter – und fanden die, wenn auch anders interpretierte, Zustimmung der Besetzer: „Wir sind nur die ersten, die vertrieben werden.“

Die Mainzer Straße in Friedrichshain war 1990 das Zentrum der zweiten Hausbesetzerwelle. Doch schon im November desselben Jahres wurden hier dreizehn Besetzungen nach einem dreitägigen Straßenkampf durch die Polizei beendet – ein Ereignis, das schließlich zum Bruch des damaligen rot-grünen Senats führte. Heute ist die Mainzer Straße ein Vorzeigeobjekt, aufpoliert mit öffentlichen Geldern – wie so manche Ecke in Friedrichshain. An der dicht befahrenen Frankfurter Allee wurden in kürzester Zeit moderne Einkaufszentren aus dem Boden gestampft. Nur in den dahinterliegenden tristen Altbauvierteln hat sich wenig verändert. Hier stehen ein Großteil der noch besetzten Häuser.

„Uns geht es gar nicht darum, irgend jemandem sein Eigentum wegzunehmen“, meint Clone, der in dem besetzten Haus Rigaer Straße 80 in einer Parallelstraße zur Frankfurter Allee wohnt. Clone will zeigen, daß man mit dreißig Leuten in einer Gemeinschaft leben kann. „Wer das Gegenteil behauptet“, meint Clone, sollte sich fragen, ob denn dann das Zusammenleben in der Gesamtgesellschaft funktionieren könne.

Nach offiziellen Schätzungen leben 3.000 jugendliche Obdachlose in Berlin. Aus der Not heraus versuchten einige von ihnen, in den vergangenen Wintern leere Häuser zu besetzen. Meist folgte die Räumung umgehend.

Nur wenige fanden in der Rigaer Straße 80 Unterschlupf. „Kids, die von zu Hause weggelaufen sind, haben praktisch keine andere Chance als die besetzten Häuser“, meint Clone. „Wenn die von der Polizei aufgegeriffen werden, kommen sie zurück zu den Eltern oder ins Heim.“ In einer Gemeinschaft wie in der Rigaer Straße 80 würden sie auch ohne pädagogisches Konzept gegenseitige Toleranz lernen, meint der 31jährige. „Die Autorität im Haus ist das Plenum, das sie selbst gestalten.“ Dabei entstünden keinesfalls die beschworenen rechtsfreien Räume, betont Clone. „Jedes Haus entwickelt seine eigenen Regeln. Wenn das Staatsrecht in den Häusern nicht funktioniert, sollten die Regierenden doch mal überlegen, was in ihrem Rechtssystem schiefläuft.“

Im Mai 1994 wurde die Rigaer Straße 80 durch einen vom Eigentümer angeheuerten Schlägertrupp überfallen. Mehrere Personen wurden schwer verletzt. Der Eigentümer mußte 18.000 Mark Strafe bezahlen. Seither sahen die Besetzer keine Vertrauensgrundlage mehr für Mietverträge, die sie langfristig an den Eigentümer binden würden. Über die aus der Besetzerbewegung gegründete Selbstverwaltete Ostberliner GenossInnenschaft (SOG) wollten die Bewohner ihr Haus kaufen. Das lehnte aber wieder der Eigentümer ab.

Die Zeit läuft gegen die Besetzer, auch wenn man ihnen die festgefahrenen Verhandlungen kaum anlasten kann. Auch die Kreutziger Straße 21 sollte über die SOG gekauft werden. Ein Angebot der Eigentümer lag vor, inklusive der Zusicherung, den Räumungsantrag bis zum 31. Oktober zurückzustellen. Drei Tage vorher stürmte die Polizei das Haus. Ein Sondereinsatzkommando sprengte ohne Vorankündigung die Eingangstür und postierte sich auf den Dächern der Nachbarhäuser. Die Räumung erfolgte auf Antrag der Eigentümer, die die Verhandlungen vorzeitig für gescheitert erklärt hatten. Die SOG konnte nicht wie verlangt innerhalb weniger Tage die notwendigen Bankkredite vorweisen. Für die Polizei handelte sich in der Kreutziger Straße 21 um eine angebliche Neubesetzung. Daß die Bewohner seit Jahren dort lebten und somit eigentlich zunächst eine gerichtliche Klärung hätte erfolgen müssen, wurde – wie auch bei zwei Räumungen zuvor – geflissentlich übersehen.

Besetzer leben gefährlich. Dreimal mußten die Bewohner der Scharnweberstraße 28 in den vergangenen Wochen Brände im Dachstuhl löschen, die Unbekannte gelegt hatten. Der Hauseigentümer plant den Abriß. Auch die „Scharnis“ würden das Haus gern über die SOG kaufen und dann wirklich „ihr“ Haus in Selbsthilfe sanieren. Zur Zeit reparieren sie das Treppengeländer, um bei einer bevorstehenden Begehung durch die Bauaufsicht keine Probleme zu bekommen. „Eigentlich würden wir uns lieber dem Kulturprogramm und der Kneipe im Haus widmen“, meint Berta, Bewohnerin der „Scharni“.

Aber nur noch selten finden sie die Zeit, um eine Volksküche auf die Beine zu stellen. „Die Bemühungen, das Haus zu halten, haben sich für einige zum Vollzeitjob entwickelt“, berichtet die Besetzerin.

Politische Unterstützung finden die Besetzer nur zaghaft. Zwar sandte die PDS mit Freke Over einen waschechten Hausbesetzer ins Berliner Abgeordnetenhaus und auch die Grünen protestieren nach jeder Räumung. Doch in der von einer Finanzkrise geschüttelten Hauptstadt streitet man eher um den großflächigen Stadtumbau als um die aus einer längst vergangenen Umbruchphase übriggebliebenen Besetzer. Entsprechend halbherzig, ja ritualisiert, fallen denn die Presseerklärungen der Opposition aus.

Der Bezirk Friedrichshain hat eine „Arbeitsgruppe besetzte Häuser“ eingerichtet. „Aber die hat nur Alibifunktion“, kritisiert Berta, „uns, die Betroffenen, wollen sie nicht dabei haben.“ Offiziell setzt sich die von der PDS aufgestellte Bezirksbaustadträtin Martina Albinus zwar für den Erhalt der „alternativen Wohnprojekte“ ein, doch im Ernstfall fühlten sich die Besetzer im Stich gelassen. Anfang Oktober hatte die Albinus unterstellte Bauaufsicht angebliche Sicherheitsmängel in der besetzten Kinzigstraße 9 attestiert. Während die Polizei umgehend zur Räumung schritt, war die Baustadträtin für die Besetzer nicht zu erreichen.

Die Hoffnung, wie Anfang der neunziger Jahre mit Eigentümern, Politikern und Sanierungsträgern an einem Runden Tisch im großen Stil über Verträge verhandeln zu können, hat heute kaum einer der Besetzer. Nicht nur, weil öffentliches Interesse und damit der Druck fehlt. Auch die rechtliche Lage ist in den einzelnen Häusern zu unterschiedlich. So sind sich nicht einmal die Bewohner einiger Häuser sicher, ob sie noch als Besetzer gelten oder schon Mieter sind.

1991 hatten die Bewohner der Rigaerstraße 83 als Hausgruppe einen Vorvertrag mit der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) abgeschlossen. Die darin vorgesehenen Mietverträge verweigerte die WBF jedoch. Zwar bestätigte das Oberlandesgericht 1994 den Anspruch der Bewohner. Doch kurz darauf wurde das Haus an die Alteigentümer rückübertragen und dann gleich zweimal weiterverkauft. Verträge gibt es bis heute nicht.

Ein paar Häuser weiter, in der Nummer 77, kämpfen die Besetzer gegen die unrealistischen Vorstellungen einer über die halbe Welt verteilten Erbengemeinschaft, die das Haus durch die Wiedervereinigung zurückgewann. „1992 wollten sie für über vier Millionen Mark verkaufen“, erinnert sich Anna. Derzeit wird über einen Kaufpreis von 900.000 Mark verhandelt. Über die Luisenstadt-Genossenschaft, die bereits Mitte der achtziger Jahre fünfzehn ehemals besetzte Häuser in Kreuzberg übernahm, wollen die Siebenundsiebziger das Haus kaufen. Doch es gibt einen Mitbewerber, der eine Modernisierung ohne die derzeitigen Bewohner anstrebt. Im August drang er gar mit Bodyguards in das Haus. „Es könnte Ihnen noch Leid tun“, drohten sie einer schwangeren Bewohnerin und drängten sie zur Seite. Aus Angst vor rechtlichen Verdrehungen zog die Besetzerin die bei der Polizei gestellte Anzeige wenig später wieder zurück.

Auf rechtlichen Schutz vertrauen die Besetzer schon lange nicht mehr. Die Räumungen der letzten Monate beruhten weniger auf juristischen als auf politischen Entscheidungen. Und die sind klar: Innensenator Schönbohm ist entschlossen, „bis zum letzten Haus zu räumen, wenn die Voraussetzungen gegeben sind“.