Die Disziplin der Bezirks-Zwerge

■ Schattendebatte bei der Wahl des City-Bürgermeisters

Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Notfall, doch dann war es nur eine aufwendige Stimmensicherungsmaßnahme der SPD-Fraktion. Die beinbruchgeschädigte Bezirksabgeordnete Grete Kleist wurde von zwei Rettungssanitätern per Rollstuhl in den Plenarsaal am Klosterwall expediert. Die Sozis brauchten am Dienstagabend jede Stimme, um im zweiten Versuch einen Leiter für das Bezirksamt Mitte zu wählen.

Der erste Versuch war im Januar gescheitert, weil ein Sozialdemokrat in heimlicher Abstimmung nicht für Siegfried Bars votierte. Diesmal tat sich der durchgefallene Kandidat und Fraktionsvorsitzende als Werbetrommler für seinen Vize Rolf Miller hervor. Der sei auch ein ganz geeigneter Kandidat. Da mochte Miller nicht schweigen und ließ beiläufig einfließen, mit Bars wäre der Mitte-Bezirk ebenfalls nicht schlecht bedient gewesen. Doch darum ging es nicht mehr.

Es ging um Miller – den Retter in sozialdemokratischer Not. Auf ihn hatte sich die SPD-Fraktion nach wochenlanger Suche einigen können. Der 58jährige Verwaltungsfachmann arbeitet als Abteilungsleiter im Berufsförderungswerk und ist Vorgesetzter von 30 Mitarbeitern. Im Bezirksamt-Mitte sind es auch nur etwa 2 470 mehr. Miller treibt seit 25 Jahren aktive Kommunalpolitik und hat sich gut gehalten: Noch immer verbreitet er die Aura der Modernität von 1970/71 – ein Mottenkugel-Sozi eben. Und dazu ein Gefolgsmann von Bausenator Eugen Wagner.

Das aber machten ihm weder CDU noch GAL zum Vorwurf. Sie mäkelten an der Kandidatenfindung herum, bei der die SPD sie nicht beteiligt hatte. Folglich sollten die Sozis das Ding auch alleine schaukeln. Die Oppositionsparteine ließen sich auch nicht durch Millers Aufforderung erweichen, einmal über den eigenen Schatten zu springen und ihn zu wählen. Damit konnte er die CDU- und GAL-Abgeordneten nicht von ihrer Ablehnung abbringen. Zumindest aber provozierte Miller mit seiner „Schatten-Rede“ eine ausführliche geometrisch-meteorologische Interpretation von GAL-Abgeordneten. Der stellvertretende GAL-Fraktionsvorsitzende Volker Nienstedt erklärte, seine Fraktion werde nicht über den Schatten springen, denn der sei viel zu lang. Das war seiner Fraktionsvorsitzenden Helmke Kaufner zu schmeichelhaft für die sozialdemokratischen Bezirksgrößen. Also erläuterte sie: „Wenn die Sonne der politischen Kultur niedrig steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.“

Aber die „Zwerge“ zeigten Disziplin. Unter den Augen einer Studiengruppe von Feuerwehrschülern wählten sie Miller mit ihren 21 Stimmen zum City-Bürgermeister. Grete Kleist konnte zurück ins Krankenhaus. Jürgen Oetting