Marx macht mobil

Das „Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus“ hat sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte durchzuarbeiten und sich „neuen sozialen Bewegungen“ zu öffnen. „Arbeit“ und „Disziplin“ werden weiter großgeschrieben  ■ Von Gerwin Klinger

Wer den Marxismus als kritische Denkmethode nicht missen möchte, der nimmt das Historisch- kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) erwartungsvoll zur Hand, zumal die ersten beiden Bände einen „Neuanfang“ versprechen. Es soll sich – so W.F. Haug im Vorwort – der „historisch-kritische Umgang mit den klassischen Texten und den sich auf diese berufenden Traditionen“ verbinden mit der „Einbeziehung von Begriffen und Problematiken neuer sozialer Bewegungen“. Die belastende Geschichte sei „durchzuarbeiten“; die marxistische Begrifflichkeit soll geöffnet werden für die „Existenzprobleme, deren sich neue soziale Bewegungen annahmen“. Kritische Philologie und theoretisch-politischer Neuanfang, dieser Anspruch prägt die äußere Aufmachung: Der Leineneinband kopiert das Design der MEGA und attachiert sich deren editorischer Sorgfalt. Das Erneuerungsversprechen hat den ersten Bänden in der Presse eine bei aller Skepsis interessierte, teils freundliche Aufnahme eingetragen – nachzulesen im jetzt erschienenen Materialienband, der überdies eine Liste der geplanten Stichworte bietet. Wie erneuert wird, in welche Richtung, das ist in der Tat die entscheidende Frage.

Eine solches Lexikon hat zunächst einen Begriffsbestand zu sichten und zu erschließen, dessen Besonderheit an solch unüblichen Stichworten wie „Arbeitslosigkeit“, „Antisemitismus“ oder „Auschwitz“ deutlich wird. Einzelne Artikel sind überzeugend, klar struktiert und wohlinformiert; z.B. „Antifaschismus“ (Hans Coppi) und „Diskursanalyse“ (Thomas Laugstien). Hin und wieder fällt eine bemühte philosophiegeschichtliche Tiefung auf: Um „Dialektik“, „Abbild“ oder „Bild“ herzuleiten, wird Anlauf bei den Griechen genommen. Da kommt manches schöne Fundstück ans Licht, der Blick wird aber von den aktuellen Problemen eher weg gelenkt. Solche enzyklopädischen Ableitungen wollen den Marxismus in die allgemeine Kulturgeschichte eintragen. Da schreibt die ganz realistische Angst der Marxisten vor der geistigen Ausbürgerung mit; aber im Manierismus der Gelehrsamkeit machen sich auch die unregulierten Vorlieben des Herausgebers breit. „Dummheit in der Musik“ erhält mehr Platz als „Demokratie“, „Bürgerrechte“ oder „Dogmatismus“. Die Fahne des Kiezkönigs weht auch über dem Literurverzeichnis: nach Hegel und Lenin ist W.F. Haug der meist zitierte Autor – abgeschlagen Adorno, Benjamin, Bloch, Brecht, Gramsci und Luxemburg.

Die Rettung der Parteidisziplin

Immer wieder arbeitet sich das Lexikon am Marxismus-Leninismus ab, um die durch ihn okkupierten Begriffe und Problematiken aus ihrer doktrinären Eingeschlossenheit zurückzuholen – einschlägig „Abbau des Staates“, „Abbild“, „Ableitung“ oder „Dialektik“. Doch geht die rettende Kritik gelegentlich in aufschlußreicher Weise fehl. Beim Stichwort „Diszpilin“, über dem der Schatten der KP mit ihren militärischen Führungs- und Gefolgschaftsstrukturen und der klandestinen Binnenmoral liegt, möchte Frigga Haug einen positiven Kern festhalten. Dazu holt sie aus Marx' Untersuchungen zur ursprünglichen Akkumulation und Fabrikdisziplin: die Notwendigkeit von Disziplin für „kollektive Handlungsfähigkeit“ und die „Dimension der Selbsterziehung“, außerdem die Unterscheidung zwischen despotisch-fremdbestimmter und assoziativ-selbstbestimmter Disziplin. Zur Sicherung gegen die Zumutungen der Partei wird deren Primat gebrochen an der Einsicht des denkenden Individuums. Hier wäre nun ein Blick auf die Blut-Geschichte der Partei- Disziplin geboten: Lenins Fraktionsverbot, Stalins Akkumulationsregime und Lagersystem, die Säuberungen, die Moskauer Prozesse und die Gleichschaltung der Internationalen – Mord und Terror gingen immer Hand in Hand mit der Parteidisziplin, bei den Tätern wie bei ihren Opfern vornehmlich in den eigenen Reihen. Die Leiche bleibt im Keller. Lapidar heißt es: „Die schwierige Lage in Sowjetrußland bringt die Gratwanderung zwischen Disziplin aus freiwilligem Engagement und Zwangsunterwerfung schließlich zum Absturz.“ Das Wort „Arbeitserziehungslager“ fällt gerade noch – und Schluß. Die Kaserne der kommunistischen Parteidisziplin wird nicht wirklich geschliffen. Frigga Haug kann oder will sich nicht von der Ein-Parteien-Logik lösen: Kernleistung der Disziplin bleibt nach wie vor die „Unterstellung vieler Einzelwillen unter einen einheitlichen“. Die Frage, was Disziplin in der interaktiven Tele- Automation oder in demokratisch- pluralistischen Parteiensystemen sein kann, wie sich Handlungsfähigkeit und Beweglichkeit in mehrzentrigen Netzstrukturen herstellt, wird noch nicht einmal gewagt! Es fügt sich, daß der Typus des Parteisoldaten keine feministische Kritik erfährt und nicht verwiesen wird auf „Demokratie“, „Fraktion“, „Pluralismus“ oder „Vernetzung“. Die Stichworte „Autonomie“ (autonome Frauenbewegung) und „Abweichung“ kommen bezeichnenderweise nicht vor. Unverzichtbar für einen „Neuanfang“ ist die Frage der Ökologie. Die Schlüsselstellung für eine Öffnung der marxistischen Begriffe in Richtung alternativen, solidarisch-nachhaltigen Wirtschaftens ist „Arbeit“. Frigga Haug handelt diesen Begriff jedoch ganz traditionell im Zeichen des Produktivismus und der Industriepolitik der alten Arbeiterparteien ab, indem sie mit einem Lob der Arbeit anhebt: Unter Bemühung eines entlegenen Marx-Zitats wird Arbeit zur „Sonne“ gemacht, um die sich die gesellschaftlichen Verhältnisse zu drehen haben. Indes, unerwähnt bleibt Marx' Kritik des Gothaer Programms, gerichtet an eine SPD, die diese Politik erstmals unter Berufung auf Marx formuliert. Der Rede von der „Arbeit als Quelle alles Reichtums“ entgegnet Marx, daß die Natur „ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte [ist] als die Arbeit“.

Tschernobyl hat keine Spur hinterlassen

Benjamin und Adorno schließen genau hier mit ihrer Kritik an der Ideologisierung von Arbeit und Produktivismus an. Keine Rede davon, und es finden sich auch keine Querverweise auf „Destruktivkräfte“, „Stoffwechsel“, „Erde“, „Ökologie“ und „Raubbau“. Zufall oder Richtungsentscheidung? Der Ökologe der Lexikon-Redaktion, Kurt Jacobs, forderte in einer Volksuni-Diskussion zum HKWM, daß bei „Arbeit“, „Produktion“, „Gebrauchswert“ und „Wachstum“ angesichts von Tschernobyl und Klimakatastrophe nicht länger so getan werde, als wäre nur die kapitalistische Hülle von einem guten Kern abzustreifen. Vielmehr müsse qualifiziert werden, welche Arbeit, welche Produktion, welche Gebrauchswerte und welches Wachstum. Statt sich auf diese Debatte einzulassen, suchte der Herausgeber einen Ersatzredakteur. Da wundert es nicht, daß namhafte Linke wie Elmar Altvater oder Christina Thürmer-Rohr fernbleiben. Mit mißlichen Konsequenzen: der Artikel über „Banken“ sieht so aus, als wäre seit den 30er Jahren nichts Neues gedacht worden; das Stichwort „Abtreibung“ fehlt.

Wie paßt die plakative Rede von „Erneuerung“ zum Bild von der „Arche Noah“? Wie eine Arche berge das HKWM die „Schätze aufklärerischen Wissens“, um sie „in eine andere Zeit zu tragen“, heißt es im Vorwort. Gewiß, es gilt auch zu bewahren, aber ein Marxismus, der sich nicht zugleich den heutigen Problemen stellt, wird auch keine Zukunft haben, sondern verabschiedet sich tatsächlich in eine andere Zeit. Eine Zeitreise, die sich als Erneuerung ausgibt, weil sich hier ein Marxismus konserviert, der in den 80er Jahren innovativ war, als über Haugs Zeitschrift Argument der Euro-Kommunismus die Bundesrepublik erreichte. Es steht zu befürchten, daß dieser „Arche Noah“ dereinst nichts anderes entsteigt als der Argument-Marxismus der 80er Jahre. Soll es nicht dahin kommen, bedarf dieses Unternehmen, das Hoffnungen weckt, der rettenden Kritik, Diskussion und Einmischung.

Wolfgang Fritz Haug (Hg.): „Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus“. Bd.1: „Abbau des Staates bis Avantgarde“ (1994); Bd.2: „Bank bis Dummheit in der Musik“ (1995). Argument-Verlag, je Band 129 DM.

„Materialien zum Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus“. Hrsg. von Frigga Haug und Michael Krätke, Argument-Verlag (1996), 213 Seiten, 20 DM