Ausschau nach Gutem

Jürgen Habermas fragt nach den Möglichkeiten einer moralischen Zähmung des globalisierten Kapitalismus: „Die Einbeziehung des Anderen“  ■ Von Robert Misik

In seinem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ läßt Bertolt Brecht drei Götter auf die Erde herabsteigen. Sie suchen nach guten Menschen und finden Shen Te. Doch in dieser Welt kann der Mensch nur um den Preis des eigenen Untergangs gut sein. In der Parabel auf die kapitalistische Produktionsweise kommen die Götter am Ende zu dem Schluß, die Menschen könnten in dieser Welt kein moralisch gutes Leben führen: „Gute Vorsätze bringen sie an den Rand des Abgrunds, gute Taten stürzen sie hinab.“

Der Brechtsche Satz war vierzig Jahre lang falsch. In den sozialstaatlich gezähmten Nachkriegsgesellschaften konnte man deren Funktionslogik gehorchen und dennoch ein moralisch gutes Leben führen. „Moralische Verpflichtungen“ erhielten das Etikett „Solidarität“ verliehen und wurden institutionalisiert – in Form der Sozial-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Damit, so konnte man hoffen, waren moralphilosophische Probleme sozialtechnisch gelöst worden.

Doch die Verhältnisse sind nicht mehr so. Deshalb hat Jürgen Habermas elf Studien und Aufsätze geschrieben und zwischen zwei Buchdeckel gepackt. Oberflächlich betrachtet, scheint der Neuling des letzten Großmeisters der Kritischen Theorie disparat. Juvenil zappt Habermas von der Moralphilosophie zur Rechtstheorie und weiter zum Staatsdenken. Er räsoniert über den Golfkrieg, die Asylgesetze, die Europäische Union und die Vereinten Nationen und über Jugoslawien. Das innere Band bildet die Frage nach Recht und Moral in einer sich globalisierenden Gesellschaft.

Habermas fragt nach der möglichen Basis einer „Solidarität mit Fremden“, ob Loyalitäten, die wir unserer engeren Umgebung nicht vorenthalten, „auf immer größere Gruppen“ zu übertragen sind. Daß die nationalstaatliche Grundlage von Demokratie, Wohlstand und Solidarität brüchig geworden ist, ist heute längst schon Common sense. Ob die zerrissenen Bande auf supranationaler Ebene neu geknüpft werden können, ist also die Frage, die Habermas umtreibt. Das geheime Zentrum seiner Ausführungen ist die Absage an jede pessimistische Anthropologie und deren Prämisse, die Habermas so formuliert: „Ein Wesen, das aus so krummem Holz geschnitzt ist, funktioniert eben nur im Nahbereich moralisch.“ Habermas weist dies weit von sich.

Der Aufsatz: „Der europäische Nationalstaat – Zur Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft“ ist deshalb einer der Schlüsseltexte dieser Aufsatz- und Studiensammlung. Denn die klassischen europäischen Wohlfahrtsstaaten sind als Nationalstaaten entstanden. Hellsichtig notiert Habermas, sie hätten ihre Leistung – „soziale Integration“ – nicht zu erbringen vermocht, hätten sie sich nicht auf eine „Idee von gesinnungsbildender Kraft, die (...) an Herz und Gemüt appelliert“, stützen können. In der „Idee der Nation“ habe sich der „säkularisierte Staat einen nicht säkularisierten Rest von Transzendenz bewahrt“. Diese Einsicht stürzt Habermas in ein Dilemma. Denn was der Nationalstaat nicht mehr kann, soll nun eine „Weltbürgergesellschaft“, vor allem aber die Europäische Union leisten. Doch eine vergleichbare „gesinnungsbildende Kraft“, die zum Motor eines solchen Prozesses der Staatsbildung höherer Ordnung werden könnte, weiß auch Habermas nicht anzuführen. So gerät ihm, was beim Nationalstaat die Folge des Integrationsprozesses war, zur Voraussetzung desselben auf europäischer Ebene. „Der Nationalstaat (hat) einen Zusammenhang politischer Kommunikation gestiftet.“ Hier ist keine „List der Vernunft“ mehr am Werke, keine nichtintendierten Folgen werden bestaunt: Eine europäische Öffentlichkeit soll geschaffen werden. In diesem Sinne plädiert Habermas emphatisch, die nationale Politik möge sich „überwinden“, starke europäische Institutionen von oben oktroyieren, eine Europäische Verfassung ausarbeiten. Er erwartet, „daß die politischen Institutionen, die durch eine Europäische Verfassung geschaffen würden, eine induzierende Wirkung haben“. So wünschenswert dies wäre, spricht dennoch wenig dafür, daß dies als Ersatz ausreichen könnte für die „imaginäre Größe“, die im Sozialstaat die „Idee der Nation“ war. Die Diskurstheorie, die seit „Faktizität und Geltung“ eine „Diskurstheorie des Rechts“ und somit im Kern „Rechtsphilosophie“ ist, erweist sich als ungenügend, den Geist von Institutionen zu erfassen, weil sie blind ist für die Leidenschaften. Auf die Wirklichkeit der kommunikativen Vernunft setzend, kann sie sich von der Wirkung der Ideologie keinen Begriff machen. Dabei muß die Realitätsmacht der Illusion aus dem Horizont dieser Theorie geraten und mit ihr der Sinn für Aporien, Widersprüche und Paradoxien. Dies kulminiert in Sätzen wie dem in der Abhandlung „Über den inneren Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat“, wo es heißt, „aus der wohlbegründeten Kritik an dieser Unterstellung“ – daß sich Gerechtigkeit aus der bloßen Gewährung negativer Freiheit schon von selbst herstelle – „hat sich das Sozialstaatsmodell entwickelt“. Als wäre die nationalstaatliche Zähmung des Kapitalismus allein aus guten Gründen gelungen ohne das bedrohliche Gegenüber der Arbeiterbewegung, die sich in den Begriffen Revolution und klassenlose Gesellschaft einen – um Habermas zu variieren – „nichtsäkularisierten Rest“ bewahrt hatte.

Habermas, der Doyen der deutschen Sozialphilosophie, hält im Trubel des sich globalisierenden Turbokapitalismus Ausschau nach Gutem – und wird fündig. So erfrischend sein Optimismus sein mag, die Grenze, an deren anderer Seite die bloße Affirmation liegt, vermag er nicht immer im Auge zu behalten. Es scheint beinahe, als gäbe es, will man nicht in radikale Zeitablehnung verfallen, keine Alternative zur Affirmation, seitdem die siegesbeglückende Gewißheit des radikalen „Umschlags“, auf die Karl Marx noch hoffte, abhanden gekommen ist. Denn schon dieser hatte sich seine Gedanken über die Implikationen jenes Phänomens gemacht, das man heute „Globalisierung“ nennt, und sie im Januar 1848 in einer „Rede über die Frage des Freihandels“ seinem Auditorium zu Gehör gebracht.

„Glauben Sie aber nicht, meine Herren“, sagte Marx seinen Zuhörern, „daß, wenn wir die Handelsfreiheit kritisieren, wir die Absicht haben, das Schutzzollsystem zu verteidigen. Man kann den Konstitutionalismus bekämpfen, ohne deshalb Freund des Absolutismus zu sein. (...) Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.“

Jürgen Habermas: „Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie“. Suhrkamp Verlag, 404 Seiten, 36 DM