Peitschende Kontraste, gefräßige Oktaven

■ In der Reihe „Das neue Werk“ stellte der NDR Hans Werner Henzes Klavieropus vor

Da macht man sich gern am Freitag abend auf den Weg in die Oberstraße, auch wenn es bitterkalt ist: Der Gegenwartskünstler Hans Werner Henze ist hinlänglich bekannt als politisch engagierter Komponist von Opern, Ballett-Musiken und „Höropern“ für das Radio. Als Sozialkritiker, dessen Libretti Grete Weil, Ingeborg Bachmann oder Hans Magnus Enzensberger schrieben. Als Theaternarr, der in der Tradition von Brecht und Cocteau steht. Aber ein Klavierwerk? Davon hatte man noch nichts vernommen.

In der Reihe „Das neue Werk“ lud der NDR ins Studio 10, um das aus sieben Stücken bestehende „gesamte Klavierwerk“ zu präsentieren. Zwischen den Stücken aus den Jahren 1949 bis 1994 gab der Pianist Moritz Eggert mündliche Hilfestellung zum Verständnis der Werke – eine gute, eine notwendige Idee.

Der Charakter dieser von der Zwölftontechnik inspirierten Musik ist abwechslungsreich, stürmisch und sehr gefräßig. Alle Oktaven müssen sich äußern. In „Cherubino“ springt eine kriminalistische Geheimniskrämerei aus den niedersten Tiefen empor in eine „Allegro“ der mittleren Oktaven, das ebenso „barbarisch“ ist wie Bartoks gleichnamiges Werk, und wächst sich aus zum Hilfeschrei in den höchsten Tönen. Die „Sonata per pianoforte“ von 1959, die Henze selbst als sein Hauptwerk bezeichnet, ist eindeutig der Höhepunkt seines pianistischen Schaffens. Akkorde verdichten sich zum Trommeln auf einem Ton, aufpeitschende Kontraste münden in einen kontrapunktischen dritten Satz, dessen Puls unvergleichlich jazzig und mitreißend ist – empfehlenswert!

Die „Toccata mistica“ von 1994, die Henze aus seiner Oper Venus und Adonis ableitete, überraschte. Das höchst amüsante Partikelwerk reißt typische Gesten aus der Klavierliteratur an: von den mit Pathos aufgelegten Anfangsakkorden aus Tschaikowskys Klavierkonzert bis zum nimmer endenden Schluß, der dann doch drei Akkorde früher aufhört als erwartet. Selten so gelacht.

Dem Pianisten stand die Rezipientin zwiespältig gegenüber: Einerseits spielte er das schwierige Werk engagiert und verständig und konnte sich in den Fortissimo-Stellen so kraftvoll durchsetzen, wie es der Komponist verlangt. Besonders die „Sonata“ spielte er mit einfühlsamer Bravour. Andererseits dachte er oft zu sehr vom Großen her, vernachlässigte Augenblicke. Diese Irritation wuchs sich zuweilen zu einem kleinen, aber gemeinen Ärger aus, denn solch ein geschwind changierendes Werk kann in seiner Logik nur durch jene Perle der Gegenwart begriffen werden, die der jeweils vorangegangenen folgt.

Gabriele Wittmann