Jugend forscht auf MTV

Flimmernde Freizeitmaschine: Das Museum Wolfsburg zeigt mit „Full House“ ein Schwimmbad voller „young british art“  ■ Von Harald Fricke

VW – auch die tun was. Zur Vernissage erhält jeder Besucher im Kunstmuseum Wolfsburg zwei Getränkebons, auf drei Stockwerken sind Bier- und Sektstände aufgebaut, in der oberen Etage legen extra aus London herbeigeflogene DJs stundenlang Glamrock, Sixties, Punk und Drum & Bass auf. Denn dies ist young british art, der man gerne nachsagt, sie arbeite mit jener „subjektiven Poesie und unbekümmerten Spontaneität, die das Lebensgefühl der MTV-Generation widerspiegelt“. Dieses Urteil findet der niederländische Direktor des Museums, Gijs van Tuyl, ziemlich modern. Also hat er es den 17 beteiligten KünstlerInnen von „Full House“ flott ins Grußwort geschrieben.

Über das museale Entgegenkommen freut sich vor allem VH-1. Der MTV-Ableger für die Generation der Stones- und Westernhagen-Fans hat die Ausstellung mitgesponsert, um nun die ganzen verrückten jungen Briten zwischen ihrer „total abgefahrenen“ Kunst zu filmen. Selbst das Gebäude mit seiner schwimmbadartigen Haupthalle wurde in lauter Guckkästen unterteilt. Ein Lob der Fischer-Technik: Groß heben sich nun die KünstlerInnennamen an den Außenwänden der wie auf einer Baustelle aneinandergeschachtelten Vorführräume ab, und nur in der Mitte kann man sich auf Angela Bullochs Siebziger- Jahre-Sitzkissen frei herumlümmeln, unter Kopfhörern dösen oder an einem älteren Modell TV- Tennis spielen.

„Full House“ ist ein mit Bildern vollgestopfter Behälter zwischen Club und Videothek; eine Freizeitmaschine, in der es kichert, splattert, wummert oder träge flimmert, wie der computeranimierte Affen- Comic zu Angus Fairhursts Surf- Musik. Man kann in der von Sarah Lucas als Pin-up-Magazin ausgestalteten Koje über die bildhauerische Raffinesse staunen, mit der sie ihre eigene „Sex Machine“ lediglich aus zwei, zumal gebratenen Spiegeleiern hervorzaubert, die an einem Holzgestell in Brusthöhe hängen; oder man starrt verwundert auf Mat Collishaws „Smoke 'n' Mirrors“, wo weiße Ratten über ein simples Spiegelsystem projiziert in einer milchigen Glaskugel herumkrabbeln. Den Trick mit der Optik hat man bald verstanden, die feine Balance der Skulptur ebenso. Aber der ungeheuer vertraute Umgang mit dem Material bleibt sehr abgründig: Wie viele Tage müssen die beiden KünstlerInnen vorher mit Eierbraten und Rattenpflege verbracht haben?

Marylin Monroe heißt jetzt Patsy Kensit

Der weite Rest sieht indessen gleichermaßen brandneu und retro aus, fast als habe man die windschiefen Schmuddelarbeiten von Martin Kippenberger, Georg Herold oder Werner Büttner digital remastered und den Rhythmus neu abgemischt. Die größten Erfolge aus New-Wave und Pop in der aktualisierten Dancefloor-Fassung, oder, um bei Bildern zu bleiben: Für Gary Hume heißt „Marylin Monroe“ jetzt „Patsy Kensit“, und er malt sie mit Industrielack auf Aluminium – Unterbodenschutz inklusive (das Museum in Wolfsburg hat gleich zwei Arbeiten von Hume für die Sammlung angekauft). Letztlich paßt der sorgsam hergerichtete Vergnügungsparcours aus Objekte-Trash, Videoprojektionen, Fotostrecken und kollektiven Chill-out-Kissen sogar zur verjüngten Firmenphilosophie von VW, die am Eingang als Broschüre ausliegt. Das Werk ist im Wandel: Während Roboter die Schwerarbeit verrichten, wird der Nachwuchs „mit permanenten Schulungs- und Trainingsprogrammen“ ebenfalls zu Selbständigkeit und Teamwork erzogen. Jugend forscht, hier im Museum und dort für die Fabrik.

Doch zunächst steht man im Dunkel und starrt auf eine gedoppelte, überdimensionale Leinwand von Douglas Gordon. Zwei Männer bemühen sich in slapstickartigen Verrenkungen um eine Frau, die ohnmächtig auf dem Sofa liegt. Ab und an zuckt der sonst leblose Körper unberechenbar, dann müssen die beiden mit festen Griffen zupacken. Trotzdem bleibt die Atmosphäre im Stummfilm „Hysterical“ seltsam ausgelassen, während sich die Szene auf der gegenüberliegenden Projektion spiegelverkehrt und in Zeitlupe rückwärts bewegt. Höllentrip oder einstudiertes Täuschungsmanöver?

Der 30jährige Schotte funktioniert Archivmaterial aus den Anfängen der Psychiatrie zu einer Analyse der Analyse um. Während der Lehrfilm von 1908 zur Schulung des Anstaltspersonals bei Hysteriefällen gedacht war, arbeitet sich Gordon damit an die sehr private Obsession des Betrachters heran, der 90 Jahre später zu Hause am Videorekorder vor- und zurückspulen kann, um „zu sehen, was man eigentlich nicht sehen sollte...“, wie Virginia Button schreibt. Damit bleibt die Kunst bei der Gleichsetzung von Voyeurismus und Wunschproduktion – Sex und Auge –, die selbst schon lange Teil des psychoanalytischen Problems ist. Sie wird nun eben aus der Theorie erneut aufs Bild übertragen, was für Patienten vermutlich gar kein so großer Spaß ist, Gordon aber den prominenten Turner-Prize für bildende Kunst 1996 eingebracht hat.

Überhaupt liegt den Briten der Hang zur reißerischen Horrorschau, die doch stets guten Vorsätzen folgen will. Schon die zerteilten Kühe von Damien Hirst hatten biblische Titel wie „Mother and child (divided)“. Die Brüder Dinos & Jake Chapman montieren nun Pimmel, Polöcher und entsprechende Mösen auf Kinderköpfe, weil Freud an all dem ödipalen Gepuzzle schuld ist. Jetzt gilt es, das Ich aus dem Sack des Unbewußten zu holen, um damit auf Papis Christentum oder Muttis schlechtes Gewissen loszuknüppeln. Nietzsche war cool, Bataille sucks: am Ende bleibt von dem aufgeblasenen Jungsgerede bloß die Installation „Tragic Anatomies“ übrig – ein beschämend harmloser, weihnachtlich geschmückter Wald mit „Fuckface“-Mutanten, der arg an Salvador Dalis Kitschgebilde erinnert. Schaufensterpuppen aus dem Surrealismus-Studio.

Auch Georgina Starrs Arrangement aus Wohnwagen, Kneipentischen und Videomonitoren ist ein Abbild vom Leben als Studentin. Für „Hypnodreamdruff“ werden Personality-Shows konstruiert: Als Suzi Wong tanzt die Verwandlungskünstlerin in einer monotonen Filmschleife, streitet sich für eine imaginäre Familienserie mit der Schwester oder träumt als plüschiges „Grease“-Fräulein von Travolta, die ganze Palette an girlistischer Pulp Fiction eben. Zugleich wird brav die Erklärung mitgeliefert, schon auf dem ersten Tischchen liegt ein Band „Games People Play“ aus, in dem die ganze „Psychology of human relationships“ von einem gewissen Eric Berne zusammengetragen wurde.

Auf der anderen Seite kippt die Ironie bei der Bewältigung dieser von all den postmodernen Rollenspielen verwirrten Existenz in Elend um. Gordon Billinghams Serie „Ray's Laugh“, ordentlich aufgereihte Farbfotografien, zeigt den sozialen Niedergang seines Alkoholiker-Vaters, der sich den Schnaps gleich vom Wischeimer neben dem Bett aus einschüttet.

Alkoholismus und Katharsis

Doch im selben Augenblick legt der erst 26jährige Fotograf eine moralische Bescheinigung für die Direktheit der zu Recht krassen Bilder bei, „denn wir sind alle mit einem Leben in Armut nur allzu vertraut“. Damit klagt er zwar die Aufgabe der Kunst ein, soziale Konflikte öffentlich auszutragen, um sich doch gleich wieder aufs Private zurückziehen zu können. Schließlich sind die Fotos gerade wegen der familiären Nähe faszinierend, die er – um seine künstlerische Distinktion bemüht – zur gesellschaftlichen Realität erhebt. Ähnlich kalkuliert wirkt Tracy Emins Dokumentarvideo „Why I never became a dancer“. Während sie von ihrem Sexleben als trauriger Teenager erzählt, der sich verzweifelt mit erwachsenen Männern über die Unbilden der Jugend hinwegvögelt, fliegen ein paar Möwen durchs Bild. Das finale „Fuck you“ klingt wie ein schwacher Emanzipationsbeleg, der wohl eher Selbststilisierung meint.

Mit dieser Anti-Haltung hätte Emin auf den Fotos von Gillian Wearing ein ideales role model abgegeben, schließlich geht es in ihren Porträts um die Ambivalenz der entleerten Intimität. Bereits 1991 sprach Wearing völlig fremde Menschen auf Londons Straßen an und bat sie, auf einem Blatt genau niederzuschreiben, was sie gerade dachten; dann fotografierte sie die jeweilige Person mit dem Papier in der Hand. Aus dieser Art Blitzumfrage entstand das Endlos-Projekt „Signs that say what you want them to say and not signs that say what someone else wants you to say“. Die knappen Statements funktionieren besser als jeder Text wie klärende Bildunterschriften; sie markieren eine Aussage, die im Moment der Aufnahme bereits aus den Gesichtern und Körpern der Fotografierten verschwunden ist. Auf dem Zettel eines abgerissenen Punks steht „I'm piss uff“, doch er lacht schon wieder. Und der schüchterne Geschäftsmann hat sich unter Kontrolle, auch wenn er ein Schild mit der Aufschrift „I'm desperate“ in der Hand hält. Eben war er noch ein anderer, Wearing zeigt, wie nun beide an der Oberfläche zusammenprallen. Dieser Crash der Identitäten macht auch die derzeitige Attraktivität von young british art aus – man merkt ihr ständig den Widerspruch zum Leben an. Absturz macht erfolgreich, zumindest in der Kunst.

Bis 31.3.1997, Kunstmuseum Wolfsburg