„Gespensterprozeß“ gegen Christoph Seidler?

■ Generalbundesanwalt Kay Nehm will Seidler wegen Herrhausen-Mord anklagen. Sein Anwalt fordert entlastende Ermittlungen. Die RAF meldet sich per Leserbrief

Berlin (taz) – Der als Herrhausen-Attentäter verdächtigte Christoph Seidler hat die Äußerung von Generalbundesanwalt Kay Nehm zurückgewiesen, sein Alibi für den RAF-Anschlag auf den Chef der Deutschen Bank Ende November 1989 sei „keineswegs lückenlos“. Der Karlsruher Oberankläger behaupte dies „wider besseren Wissens“, sagte Seidler zur taz.

Nehms Ankündigung in der Süddeutschen Zeitung, er werde den jahrelang als RAF-Mitglied Gesuchten wegen Mordes anklagen, interpretiert Seidler als Ausdruck des Erfolgsdrucks, dem der Generalbundesanwalt angesichts der Debatte über die erfolglose Fahndung nach RAF-Mitgliedern ausgesetzt sei. Trotzdem werde er sich dem Verfahren stellen.

Seidlers Anwalt, Michael Moos, erinnerte am Wochenende in einer Erklärung an eine Fülle übereinstimmender Aussagen deutscher und arabischer Zeugen. Danach habe sein Mandant mehrere Jahre ununterbrochen, insbesondere im Oktober und November 1989, im libanesischen Ort Aitat gelebt. Der Bundesanwaltschaft (BAW) wirft Moos vor, in dem Verfahren „fortlaufend“ den Rechtsgrundsatz zu verletzen, wonach auch „zur Entlastung dienende Umstände zu ermitteln“ seien.

Die BAW unternehme „keinerlei Anstrengungen“, arabische Zeugen auf dem Wege der Rechtshilfe vernehmen zu lassen, die ausdrücklich zu einer Aussage vor libanesischen Behörden bereit seien. Nach Aufhebung des Haftbefehls gegen Seidler durch den Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof am 22. November hätten zudem zwei weitere Zeugen die Angaben seines Mandanten und dessen Alibi bestätigt. Die beiden Brüder, die seinerzeit einer drusichen Miliz angehörten, hätten mit Seidler in der fraglichen Zeit ständig in Kontakt gestanden und könnten sich auch an Details erinnern – etwa an ein Che-Guevara- Porträt, das Seidler für sie gemalt habe.

Moos wirft der Bundesanwaltschaft vor, sie steuere einen „Gespensterprozeß“ an. Statt des voraussichtlich nicht mehr vernehmungsfähigen Zeugen Siegfried (Siggi) Nonne oder objektiver Beweismittel solle vor Gericht ein Gutachter präsentiert werden, welcher Nonne seine Seidler belastenden Aussagen abnehme. Zwei Tage vor Seidlers Rückkehr am 22. November hatte der Ermittlungsrichter Nonne in einer psychiatrischen Klinik besucht. Dieser verweigerte jede Aussage zur Sache, erklärte aber, er erhalte das Medikament „Haldol“, um „Stimmen zu verdrängen“, von denen er nicht wisse, ob sie von „außen oder von innen kommen“. Vieles deute daraufhin, so Moos, daß Nonne schon 1991, als er erstmals behauptete, Seidler und drei andere RAF-Mitglieder bei der Vorbereitung des Herrhausen-Anschlags unterstützt zu haben, in einem „paranoid-halluzinatorischen Wahnsystem“ gefangen gewesen sei.

Die BAW hatte vergangenen Mittwoch, fast drei Wochen nach der Aufhebung des Haftbefehls gegen Seidler, beim 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs Beschwerde gegen den Beschluß des Ermittlungsrichters eingelegt. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung kündigte BAW- Chef Nehm an, künftig auf die Plakatfahndung nach mutmaßlichen Mitgliedern der RAF zu verzichten. In den vergangenen Wochen hatten sich die Hinweise verdichtet, daß auf dem aktuellen Plakat neben Seidler noch mindestens drei weitere „falsche“ Köpfe abgebildet sind.

Unterdessen meldete sich die RAF zum zweitenmal innerhalb von zehn Tagen aus dem Untergrund. In einem auf den 9. Dezember datierten Leserbrief an die junge Welt entschuldigen sich die unbekannten Autoren quasi dafür, in ihrer Stellungnahme von Ende November (siehe taz vom 5. 12.) nicht auf die jüngsten Erklärungen der RAF-Gefangenen Birgit Hogefeld und Helmut Pohl eingegangen zu sein. Beide hatten die förmliche Auflösung der RAF angemahnt. In dem neuen Schreiben heißt es, man werde nicht einfach weitermachen wie bisher. Und wörtlich: „Das RAF-Konzept ist überholt. Das ist objektiv so. Dabei bleibt es auch. [...] Es kann auch keine modifizierte Neuauflage des alten geben“. Außerdem wollen die Autoren „demnächst“ ein „Resümee der Geschichte der Linken – und in ihr der RAF – ziehen und Schlußfolgerungen für die Zukunft ableiten.“ Gerd Rosenkranz