Hermeneutik auf Samtpfoten

■ Weich gezeichnete Alice, philodadaistisches Ei: Peter Zadek inszenierte „Alice im Wunderland“ an den Münchner Kammerspielen als vorweihnachtliches Praliné

Das Ei auf der Mauer mit seinen schrägen Wortverdrehungsarien ist eine der Galanummern in „Alice im Wunderland“. Humpty Dumpty, der Dadaist mit Königskomplex, der der staunenden Alice eine jener naiv-tiefsinnigen Überlegungen entlockt, für die man den viktorianischen Märchenerzähler Lewis Carroll liebt. Wenn ein Ei so breit grinst wie Humpty Dumpty, sinniert Alice, könnten die Mundwinkel doch hinten wieder zusammentreffen, und dann wäre der Kopf gespalten.

Eine Phantasie, in der mehr als nur die Sorge um das Ei mitschwingt. Charles Lutwidge Dodgson, der sich hinter dem Pseudonym Lewis Caroll verbarg, hat nicht nur ein poetisches Märchen geschrieben. Seine Alice durchlebt im unterirdischen Traumreich auch Identitätsverwirrungen und Identitätsfindungen, und en passant absolviert sie eine Odyssee durch europäisches Kulturgut. Angefangen von kurzen „Faust“-Persiflagen bis hin zum weißen Ritter, der mit seinem wunderlichen Erfinderwahn wie ein Don Quichotte des 19. Jahrhunderts wirkt.

Sowohl Humpty Dumpty als auch der weiße Ritter kommen allerdings erst in „Alice hinter den Spiegeln“ vor. Peter Zadek übernahm trotzdem beide Episoden in sein ganz persönliches Wunderland. Es versteht sich, daß einer wie Zadek weder eine bildungsbürgerliche noch eine tiefenspsychologische Märchentour im Sinne hat. Und daß er auch nicht, wie Robert Wilson vor vier Jahren, ein hochästhetisches und steriles Spiel der Formen auf die Bühne drechseln würde. Bei Wilson rührten phallische Symbole an ganz andere Tiefengründe des Theologen und Mathematiklehrers Dodgson.

Der Träumer am Oxforder Christ Church College liebte junge Mädchen, phantasierte für sie ein ganzes Märchenuniversum zusammen und fotografierte sie in Lolita- Posen. Am berühmtesten: ein Bild seiner Muse, der kleinen Alice Liddell, lasziv als Bettlermädchen an eine Mauer gelehnt. Nicht nur ihr schrieb Dodgson anspielungsreiche Briefe – daß im Insel-Bändchen „Briefe an kleine Mädchen“ ausgerechnet die an Alice fehlen, hat einen Grund. Die Mutter des Mädchens vernichtete sie.

All das hatte Zadek weniger im Blick. Ist auch nicht notwendig, wenn man ein Märchen für Erwachsene erzählen will und dazu alles aufbieten kann, was gut und teuer ist. An den Münchner Kammerspielen hat sich Zadek mit seiner „Alice“ die teuerste Produktion des Hauses in den letzten Jahren geleistet: Tankred Dorst fungiert als Erzähler; Johannes Grützke malte wundervolle Zauberwald-Prospekte; und Peer Raben lieferte kurze musikalische Geplänkel. Die Tierkostüme sind so phantastisch, daß man sich Paulus Manker als züngelnder weißer Schnapphase direkt im Weihnachtsbräter vorstellen könnte; das riesige Schoßhündchen, dem Alice zu Beginn begegnet, wurde tatsächlich überdimensional nachgebaut.

Also alles in Butter, wäre Zadek das Ganze nur nicht wie ein zu süßes vorweihnachtliches Praliné geraten. Am Ende bleiben lediglich die Passagen haften, in denen die Kammerspielstars ihre eigenen Galavorstellungen geben. Lambert Hamel zum Beispiel als Humpty Dumpty mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck. Das Gedicht des philodadaistischen Rundlings, eigens für Alice verfaßt, gibt er passagenweise als Büttenrede à la Mainz. Und Thomas Holtzmann spricht unermüdlich und verzückt die krausen Gedanken des sanft verwirrten weißen Ritters in den Raum.

Ein Grund für den süßlichen Geruch über Zadeks „Alice“ – er hat Christian Enzensbergers Übersetzung gewählt, in der (ganz im Gegensatz etwa zu Barbara Teutschs Übertragung für Kinder) häufig abgemildert wird. Beispiel: In der alles andere als staatstragenden Szene mit der babyschwingenden Herzogin samt pfannenschleudernder Köchin und Grinsekatze singt die matronenhafte Herzogin (Christa Berndl) ein Schlaflied der besonderen Art. Enzensberger übersetzt: „Sprich roh mit deinem kleinen Sohn / Und hau ihn wenn er niest.“ Bei Teutsch hingegen heißt es: „Schlafe mein Prinzchen schlaf ein / Sonst hau ich dir eine rein.“ Ein weiterer Grund für Zadeks Weichzeichnung ist Deborah Kaufmann, eine Entdeckung aus seiner Zeit am Berliner Ensemble. Sie spielt eine Alice im roten Hängerchen, die alle Kleinmädchenregister zieht: nach innen gekehrte Beine, die Schüchternheit signalisieren sollen, schlenkernde Armbewegungen, Kulleraugen. Dodgson gab der Alice viele Schattierungen, gestattete ihr subversive Energien, Renitenz und Nüchternheit, wenn es darauf ankommt. Bei Deborah Kaufmann wird das in einer alles überschattenden Naivität eingemeindet, so daß man sich zum Schluß am liebsten an den Anfang erinnert. Da erzählte Tankred Dorst größere Passagen, Alice schrumpfte und wuchs willkürlich, und die Inszenierung hatte noch Charme. Jürgen Berger

Lewis Carroll: „Alice im Wunderland“. Regie: Peter Zadek. Bühne: Karl Kneidl. Mit Deborah Kaufmann, Sibylle Canonica, Jörg Hube, Thomas Holtzmann u.a.; Münchner Kammerspiele. Wieder am 19., 20., 23., 25. 12.