Weihnachten mit Familie R. – ein Nachruf Von Carola Rönneburg

In jedem Jahr begann das Weihnachtsfest bei Familie R. mit dem Eintreffen der republikweit verstreuten restlichen zwei Familienmitglieder. Gemeinsam begrüßte man dann das assoziierte Familienmitglied, Herrn B. Herr B. hatte schon den Heiligabend bei Familie R. verbracht, als er noch Matthias hieß. Auf der Gästeliste der R.s firmierte er dennoch unter dem Namen „das Waisenkind“.

Fest in der Tradition verankert war die Einnahme eines ersten Gläschens Sherry in der Küche, wo sich Mutter R. um einen Braten sorgte und leise zunächst die Ober-, dann auch die Unterhitze des Backofens verfluchte. Dem Weihnachtsreglement entsprechend überprüften nun alle Küchenbelagerer den Inhalt diverser Schalen und Töpfe, um sich dann mit vollem Mund in dunklen Vorahnungen zu ergehen, was die Möglichkeit betraf, um diese Uhrzeit noch einen Platz in einem Restaurant zu ergattern. Nach alter Sitte ahndete Mutter R. diese Provokation mit einem Platzverweis.

Wenn der Braten und die ersten Flaschen Rotwein sicher in den Mägen der Familie R. versenkt waren, wurde zügig abgeräumt, um Platz für Rauchwaren und Geschenke zu machen. Gern wurde zuerst das Präsent des Waisenkindes geöffnet: Ein Kistchen mit Schiebedeckeln, und darin schlummerte eine Flasche Don Carlos. Geschenke für die ganze Familie waren bei den R.s sehr beliebt.

Der Brauch sah vor, daß nun R. junior dem Waisenkind zwei Zigarren überreichte (drei, als R. senior noch rauchte). Während Kringel geblasen und Päckchen geöffnet wurden, tat Herr R. wie üblich so, als hätte er Frau R.s Geschenk in diesem Jahr ganz vergessen. Frau R. wiederum lieferte eine schauspielerische Meisterleistung, indem sie sich benahm, als hätte es noch nie am 24. Dezember ein Geschenk für sie gegeben. Nach einer angemessenen Wartezeit gab Herr R. dann zu verstehen, daß sich irgendwo im Raum vielleicht doch eine Kleinigkeit finden ließe. Gewinner dieser Partie war aber immer Frau R., die ihre Suche schamlos ausdehnte, bis sie seltsamerweise eine kleine Schachtel hinter einem Sofakissen entdeckte.

Nach diesen einleitenden Riten konzentrierte sich Familie R. auf Gespräche über Reisen (alle), die Zukunft des Waisenkindes (Frau R.), das Leben in der Diaspora (der jüngere R.), die deutsche Innenpolitik (Herr R. vs. Tochter R.) und die Frage, was nun anstelle des Rotweins getrunken werden solle.

Im weiteren Verlauf des Heiligen Abends, bei Sekt und Bier, bastelte das Waisenkind aus Drahtgestellen und Sektkorken sehr hübsche Zirkuslöwen und Zirkuslöwenpodeste für die ganze Familie. Zu später Stunde rekapitulierte man Ringelnatz-Gedichte. Frau R. und ihre Tochter waren meist die ersten, die über den aus Bierflaschen nachgebauten Eiffelturm stiegen, um sich zu Bett zu begeben. Gegen zehn Uhr morgens mußte dann Herr R. dem Waisenkind die Tür öffnen, wenn es sich auf der Suche nach dem Bad ausgesperrt hatte.

Diese besinnlichen Abende im Kreise der Lieben haben nun ein Ende gefunden. Herrn R.s Stammhalter hat am anderen Ende des Landes eine eigene Familie gegründet. Bis sein Nachwuchs vom Familienrat als feiertauglich eingestuft wird, muß eine amputierte Familie R. inklusive Waisenkind alleine zurechtkommen.