Flüchtiger Geschlechterwandel

■ John Neumeier stellt bei seiner Ballett-Premiere Vivaldi oder Was ihr wollt die Androgynität der Figuren ins Zentrum

Die zwölfte Nacht nach Heiligabend, das war vor 350 Jahren im englischen Volksbrauch jene letzte der Rauhnächte, während derer die Menschen die als „nicht existierend“ geltende Zeit zwischen den Jahren feierten. Entsprechend karnevalesk geht es in William Shakespeares witzigster und vertüfteltster Verwechslungskomödie, Zwölfte Nacht oder Was ihr wollt, zu.

Die Geschlechter wandeln sich wie im Fluge. Auch die Wörter sind meistens zweideutig. Die gesellschaftlich verabredeten Grenzen zwischen den sozialen Rängen geraten ins Wanken. Heimlich liebt die Gräfin ihren knabenhaften Boten, der Haus- und Hofmeister liebt seine Vorgesetzte, und das dem Alkohol zugetane Volk nutzt diesen Tratsch für seine klugen Streiche aus.

Liegt John Neumeier bei seiner Ballett-Adaption eine solchermaßen anarchische Deutung nahe? „Mein Hauptanliegen ist nicht, das Stück zu deuten“, antwortet er im Interview mit der taz hamburg, „sondern auf Vivaldi zu tanzen.“ Es wäre flach, so fügt er hinzu, Vivaldi oder Was ihr wollt als Ballett über das Shakespeare-Stück zu betrachten. Denn für die Premiere am kommenden Sonntag orientierte sich der Choreograph zunächst an der Musik.

Zuerst stellte er Stücke von Vivaldi nach einem Konzertprinzip zusammen. Dann erst fragte er sich: Welche Stränge der Geschichte passen auf solche Musik? Neue Gesichter prägen dabei Musik, Kostüme und Bühnenbild: Der Leipziger Dirigent Max Pommer führt das Orchester, Hans-Martin Scholder stattet zum ersten Mal ein Ballett aus, und Christina Engstrand aus Stockholm entwirft die Kostüme.

Die Figuren von Shakespeare sind alle da: Der Herzog Orsino und Gräfin Olivia, die weibliche Hauptfigur Viola (nach zweijähriger Babypause wieder da: Gigi Hyatt) und ihr Zwillingsbruder Sebastian, die Saufclique Sir Toby, Sir Andrew und Maria, nebst moralinsaurem Malvolio. Doch sie alle spielen nicht das Stück nach. „Meine Figuren haben sich frei gemischt und wieder getroffen durch die Noten von Vivaldi“, erklärt Neumeier. Es kommen sogar frei erfundene Szenen hinzu.

Eine thematische Dimension interessiert John Neumeier jedoch sehr an der Vorlage: Der Wechsel der Geschlechter durch Verkleidung. „Mit den Hippies der siebziger Jahre begann die Tatsache, daß man oft nicht mehr sagen kann, wer ein Junge ist und wer ein Mädchen.“ Diese androgynen Aspekte, die heute auch von der Werbung genutzt werden, interessieren Neumeier am Stück. „Orsino zum Beispiel wird bedient von Viola als Junge bekleidet“, sinniert er. „Wenn er gegen Ende des Stückes entdeckt, daß dieser Junge ein Mädchen ist und sie sofort liebt, ist das Blödsinn. Er muß sie die ganze Zeit geliebt haben!“

Gabriele Wittmann Premiere: Sonntag, 22. Dezember, 18 Uhr, weitere Aufführungen am 23., 25., 27. und 28. Dezember, jeweils 19.30 Uhr, Hamburg Ballett in der Staatsoper