Zwei Gin Tonic sind einer zuviel

Stadt im Film (X): Tel Aviv – die Bewohner der „Brave New City“ wollen vor allem zivil und normal leben  ■ Von Tsafrir Cohen

Tel Aviv ist die Traumstadt der Urväter des Zionismus, die Verkehrung aller Werte der Hauptstadt Zions, Jerusalem. Wenn Kirk Douglas im Kriegsfilm „Schatten der Giganten“ („Cast of a Giant Shadow“, USA 1966), der den Unabhängigkeitskrieg Israels 1948 nacherzählt, auf den Staatsgründer Ben Gurion trifft, so wird er mit der Befreiung Jerusalems beauftragt, denn, so Ben Gurion, ohne Jerusalem gebe es kein Israel. Wie unwahr – Ben Gurion, wie alle seine Mitstreiter, beäugte Jerusalem ungläubig, lebte dort nicht, ließ sich keinesfalls dort begraben, denn das heilige Jerusalem stellte für sie, wie das weltliche Jerusalem, das „jiddelnde“ osteuropäische Vilnius, die jüdische Diaspora-Tradition schlechthin dar. Die galt es zu bekämpfen, um Voraussetzungen zu schaffen für ein neues jüdisches Bewußtsein, das der säkularisierten jüdischen Arbeiter und Bauern, das auf nationale und staatliche Machtbeanspruchung zu basieren habe. Ein Volk, eine Nation, ein Staat – wie alle anderen Europäer des 19. und 20. Jahrhunderts halt.

Brave New City Tel Aviv ist ein Produkt unseres Jahrhunderts, ihre urbane Landschaft ist gespickt mit verrottenden Bauten im Bauhausstil wie keine zweite Stadt, ihre Dynamik ist seit ihrer Gründung vor drei Generationen ungebrochen, genauso ungebrochen wie die Suche nach dem Anschluß an New York und Paris.

Doch so schnell läßt sich kein Bewußtsein schmieden, vor allem kein bildliches. Dort, wo Hongkong mit seiner vertikalen, schnellen und urbanen Ästhetik im Gegensatz zum langsam in den weiten Horizont erstreckten Western glänzt und die physischen Begebenheiten Hongkongs widerspiegelt, Kaurismäki die fast mythisch gewordenen Bilder Londoner Punkgruppen in ein ureigenes nordisches Gefilde entführt und neu erfindet, schielt der israelische Filmemacher auf das Altbewährte im Westen, bastelt seine urbane Landschaft zurecht und entwirft ein Mini-New-York oder -L.A., das immer zweitklassig bleibt.

Während Irit Linor – wie die meisten Autoren des Landes – es versteht, in ihrem Roman „Das Lied der Sirene“ ein Bild der Hyperrealität Tel Avivs zu entwerfen, versucht Regisseur Eytan Fuxs im gleichnamigen Film (1995), die entsprechenden Bilder zu finden. Aus der angelsächsischen Mottenkiste heraus holt er das Bild des High-Tech-Filmproduktionsbüros im Manhattaner Hochhaus, der kalifornischen Strandpromenade, durch die Fenster eines Luxusappartements gesehen, oder den Londoner Camden Market. Wie im amerikanischen Film werden diese Bilder durch ein unberührtes, ländliches Gegenüber noch verstärkt, in diesem Fall Maskeret Bastia, ein idyllisches Dorf, ein Überbleibsel des fast sowjetisch anmutenden bäuerlichen Zionismus aus den Anfängen des Jahrhunderts.

Das Tel Aviv, das sich in Linors Roman herauskristallisiert, basiert auf der Diskrepanz zwischen dem ideologisierten Leben des Nahostlers und dem Tel Aviver Alltag: eine Oase der Normalität inmitten des politisch gestreßten Nahen Ostens, ein Stück zivilen Lebens der Mittelmäßigen und Ängstlichen, die auch während des Golfkrieges ihren Humor nicht verlieren und eigentlich nur in Ruhe gelassen werden wollen. Eben diese Diskrepanz zwischen dem Versuch, zivil und normal wie in South Dakota zu leben, und der harschen israelischen Realität verleiht dem Roman seine Stärke. Fuxs hingegen stilisiert Tel Aviv zu einer Art L.A., wo Politik, Ideologie und Krieg keine Rolle spielen, höchstens in Form eines Unfalls, als ob die Problematik im Nahen Osten vergleichbar wäre mit einem großen Feuer auf den Ölfeldern in „Dallas“. Auch der dreiteilige Film „Tel Aviv Stories“ (1994) bleibt eine Übung im Nachahmen amerikanischer Vorbilder, Tel Aviv wirkt gesichtslos, wie Filme aus San Francisco, die im billigeren Vancouver gedreht wurden.

Die Großstadt wird simuliert, und hätte Israel auch früher eine nennenswerte Filmindustrie gehabt, so wären es in den frühen Fünfzigern Bilder aus Moskau, der Hauptstadt der damaligen Schutzmacht Sowjetunion gewesen, und in den Sechzigern dann aus dem damals wichtigsten Verbündeten Paris. So ergeht es auch „Das Leben nach Agfa“ von Assi Dayan (1994): Wenn der Film auch alle, aber auch alle Konflikte der israelischen Gesellschaft behandelt (Palästinenser und Israelis, Sephardim und Aschkenasim, Machismo), so bleibt der Handlungsort ein erfundenes Zitat (aus „Cheers“). Die Bar und die Bar-Mama existieren in Israel nicht, wer zwei Gin Tonic hintereinander trinkt, läuft Gefahr, ewig als Alkoholiker zu gelten: Das kulturelle Gefälle zwischen Israelis und Neuzuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion wird gerade bei Fragen der Trinkkultur gegenwärtig.

Die „israelische Erfahrung“ wird im Film berührt, doch vermag sie nicht, ihm eine angemessene Form zu geben. Die andere Welt: Europa, und heute vor allem Amerika, scheint wahrer, treffender zu sein. Hier ist es interessant zu sehen, daß der in den Kinderschuhen steckende palästinensische Film eine andere, eigene Sicht – auch von Tel Aviv – entwirft, dessen Bildersprache gänzlich der arabesken Art des Geschichtenerzählens à la Nagib Mahfus und der postmodernen Metamorphose dessen – einer Art Surrealismus – entspricht.

Die einzigen Filme, die die „Seele“ Tel Avivs berührt haben, sind Filme von und über Außenseiter. „Nagu'a“ von Amos Gutman erzeugt intensive, depressive Bilder: Es ist die melancholische Geschichte israelischer Homosexueller, die ihre Entsprechung in Bildern vernachlässigter Hinterhöfe und abbröckelndem Putz haben. Der Kurzfilm „Orwim“ (deutsch: Raben) der Regisseurin Ayelet Menachemi behandelt zwei Jugendliche, die der Gesellschaft den Rücken kehren. Wie Kinder der No-future-Generation leben sie in einer von Arbeitsrhythmus und Familienstrukturen völlig abgelösten Welt, in der ganz andere Gesetze gelten. Der Süden Tel Avivs, menschenleeres ehemaliges Downtown und der Machane Jehuda Market im Morgengrauen bilden die Kulisse dieses Films, der in seiner Dichte eine ungeahnte existentielle israelische Bildsprache erfindet, die Kunstsprache ist und doch den Geruch von verfaulendem Gemüse aufsteigen läßt, ein real existierender Urgeruch dieser Stadt.

Tel Aviv – da könnte ich ein sehnsüchtiges Lied davon singen – besitzt einen unwiderstehlichen Charme. Häßlich, planlos hingeklotzt, verwahrlost und ein wenig geschichtslos, basiert ihre Anziehung in der einzigartigen Exotik verfallender, niedrig gebauter Bauhaus-Gebäude, die keinerlei Ähnlichkeit mit der orientalischen oder kolonialen Bauweise anderer Nahost-Städte hat. Zusätzlichen Reiz verleiht die ehemalige Bevölkerungsstruktur, die der Stadt die verschiedensten Geschäfte, Gerüche und Gewohnheiten beschert hat: Grillrestaurants aus Rumänien, Märkte aus Arabien, Cafés aus Wien und Apotheken aus Deutschland.

Doch die Bilderlügen der Tel- Aviv-Filme enthalten eine wichtige Wahrheit über ihre Gesellschaft: Israels Bilder kommen von woanders her und gehören einem anderen, simulierten Ort, der mal London, mal New York heißt. Der israelische Dramatiker Henoch Levin läßt seine Figuren, allesamt kleine spießige Figürchen, von der Impotenz ihrer Gegenwart immer nach dem „wahren“ Leben in den Traumstädten Zürich und München, Paris und New York vergebens streben. Damit hat er eine Kunstsprache erfunden, die ihresgleichen in der israelischen Kulturlandschaft sucht. Israels Filmemacher dagegen scheinen weniger wie Levin die eigene, wie auch immer geartete Welt in Kunstform umzuwandeln, vielmehr ähneln sie seinen Figürchen, die immer nach dem Wahren, Schönen und Besten trachten – gefangen in einem defekten, fremdbestimmten Mechanismus, indes aber verurteilt sind, zweite Wahl zu bleiben, ohne geeignete Sprache für die etwas linkische Grandeur ihrer eigenen Stadt.