Landesverräter bleiben einsam

■ Der Franzose Georges Boudarel lief 1949 im Krieg zur Vietminh über – und hadert noch heute mit den Folgen

Georges Boudarel hat die Seite gewechselt. Seine Landsleute, denen er im „Lager 113“ im Norden von Hanoi die Bewunderung für Stalin beibringen wollte, beschimpfen ihn als Vaterlandsverräter. Sogar ein Verfahren wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wollten sie ihm machen. Er selbst nennt sich „Verräter am Kolonialismus“, und darauf ist der alte Mann im lila Strickpullover unter der schwarzen Leinenweste immer noch stolz.

An einem Novembertag im Jahr 1949 aß Boudarel sein für lange Zeit letztes Hühnchen in Sahnesoße in einem französischen Restaurant in Saigon. Dann kam das Taxi von Zoung und holte den jungen Mann ab zur Vietminh. „Der Übertritt war ein Kinderspiel“, erinnerte er sich später.

Die Strapazen kamen danach. Er arbeitete in einem Radiosender, einem Gefangenenlager und in vietnamesischen Verlagen. Er versteckte sich in winzigen unterirdischen Tunneln vor französischen Soldaten, erkrankte an Malaria, prallte am Mißtrauen der vietnamesischen Funktionäre ab und mußte mit ansehen, wie die „wunderbare utopische Gleichheit“ der ersten Monate einer neuen Klassengesellschaft wich.

Im Jahr 1963 verließ Boudarel Hanoi und ging nach Prag, wo er als Redakteur bei der FSM, der Dachorganisation der kommunistischen Gewerkschaften, arbeitete, bis Frankreich 1966 eine Generalamnestie für Verbrechen während der Kolonialkriege erließ. Die befreite ihn von der Todesstrafe, zu der er in Abwesenheit verurteilt worden war.

Der Übertritt war Boudarel nicht in die Wiege gelegt. 1926 kam er im erzkatholischen Rhônetal in einer konservativen Arbeiterfamilie zur Welt. Er wollte Priester werden und geriet unter dem Einfluß eines Jesuiten an die Kommunisten. Wäre er ein Jahr früher zur Welt gekommen, hätten die Deutschen ihn vermutlich zur Zwangsarbeit rekrutiert. Der alte Mann ist davon überzeugt, daß er dann zur Résistance gegangen wäre. Die Zufälle des Lebens spielten anders. Es dürstete ihn nach Exotik, erinnert er sich an 1948, als er als 22jähriger Medizin auf Madagaskar studieren wollte. Das Ministerium in Paris belehrte ihn, daß die Universität nur „Eingeborenen“ zugänglich sei und bot ihm eine Stelle in Vietnam an. So wurde er Philosphielehrer in Indochina, wovon er keine Ahnung hatte.

Der Lehrer Boudarel haßte die enge, arrogante Kolonialgesellschaft. Selbst unter brutalisierten Fremdenlegionären fühlte er sich wohler. Den Krieg, der dort seit zwei Jahren schwelte, betrachtete er als vorübergehende Erscheinung. Er hörte Gerüchte über Folterungen vietnamesischer Oppositioneller und rauchte Opium. Kommunistische Kontakte hatte Boudarel in jenen ersten Jahren kaum. Die örtlichen Parteien hatten sich auf Beschluß von Ho Chi Minh aufgelöst. Die französische KP lehnte ein Engagement im Ausland ab. Sie war auch gegen die Desertion von Soldaten, denn sie glaubte, sie würde bald die Macht in Frankreich haben, wofür dann Offiziere nötig wären.

Boudarels Desertion war eine individuelle Entscheidung. 1948 stellte er fest, daß er den „Kontakt zur Realität verloren“ habe und knüpfte über einen Freund bei der Gewerkschaft CGT Kontakte zur Vietminh. Deren illegale Führung in Saigon empfing ihn zum Kontaktgespräch. Wenig später wurde er abgeholt.

Vier Jahrzehnte später ist aus dem Kommunisten ein parteiloser Geschichtsprofessor in Paris geworden. Da holt die Vergangenheit Boudarel ein. Bei einem Kolloquium beschimpft ihn ein ehemaliger Staatssekretär des Verrats. Boudarel ändert umgehend das Thema seines Vortrags. Er steht zu seinem Engagement. Er würde es wieder tun, sagt er. Er habe Verständnis für die Leiden der französischen Soldaten. Aber mißhandelt habe er sie nie. Die Verantwortung für das Leiden der Gefangenen des Lagers 113, von denen über die Hälfte starben, trage Frankreich, das nichts für seine Soldaten getan habe.

Er wird vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Freunde ziehen sich zurück, er erhält Drohanrufe. Das Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit findet nicht statt. Aber mit 70 ist Boudarel ganz allein. „Wenn es Gott gäbe“, sagt der Exkommunist, „wäre das seine Strafe.“ Dann fügt er hinzu: „Aber Gott existiert nicht.“ Dorothea Hahn